Zystinsteine E72.0+N22.8*

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 29.03.2021

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Synonym(e)

Cystinsteine

Erstbeschreiber

Im Jahre 1810 beschrieb Wollaston als Erster einen mit dem Urin ausgeschiedenen Zystinstein (Hoffmann 2014).

Definition

Zystinsteine stellen die Manifestation einer Erkrankung dar, bei der sich - durch einen Überschuss an Zystin - Steine im Urogenitaltrakt bilden. Zystinsteine weisen eine typische gräulich / gelbe Farbe auf und sind hart (Kuhlmann 2015 / Keller 2010).

Einteilung

Die Zystinsteine zählen zur Gruppe der genetisch bedingten Steine (Kuhlmann 2015).  Sie werden durch eine Zystinurie verursacht und können als homozygote (sog. klassische Zystinurie [Dötsch 2017]) und als heterozygote Form auftreten.

Bei Heterozygoten differenziert man zwischen zwei Varianten:

  • Typ 1- Heterozygote: Hierbei ist das Ausscheidungsmuster für vier Aminosäuren (s. „Ätiopathogenese“) normal. 
  • Non- Typ 1- Heterozygote (ehemals Typ II und III): Bei diesem Typ finden sich mäßig erhöhte Werte aller vier Aminosäuren (Kasper 2015).

 

 

Vorkommen/Epidemiologie

Zystinsteine zählen mit ca. 1 % - 2 % aller Nierensteine zu den nur selten auftretenden Steinen (Kasper 2015). Sie sind aber die häufigste genetisch bedingte Steinerkrankung mit einer Prävalenz von ca. 1 : 7.000 (bei Homozygoten). Bei ca. 10 % der kindlichen Lithiasis handelt es sich um Zystinsteine (Weigert 2018).

Ätiopathogenese

Die Zystinurie mit Bildung von Zystinsteinen zählt zu den autosomal rezessiv vererbten Erkrankungen. Sie kann durch Mutationen an 2 unterschiedlichen Chromosomen (Chromosom 2 und 19) verursacht werden (Kuhlmann 2015).

Es handelt sich dabei um einen Defekt der Membranträgerproteine in den Darmzellen und im proximalen Tubulussystem der Nieren. Dadurch kommt es zu einer verminderten Rückresorption der folgenden dibasischen Aminosäuren (Kasper 2015):

  • Zystin
  • Lysin
  • Ornithin
  • Arginin

Durch die Anhäufung der dibasischen Aminosäuren im Urin kommt es zu einer Präzipitation mit Bildung typischerhexagonaler Zystinkristalle (Kasper 2015).

Bei Homozygoten beider Varianten (s. o. „Einteilung“) findet sich eine deutlich erhöhte Ausscheidung der o. g. Aminosäuren. Heterozygote vom Typ 1 weisen normale Ausscheidungsmuster für Aminosäuren auf, während Non- Type- 1- Heterozygote mäßig erhöhte Werte ausscheiden (Kasper 2015).

Klinisches Bild

Bei der homozygoten Form findet sich ein bereits in der Kindheit beginnendes rezidivierendes Steinleiden. Bei Heterozygoten Typ 1 (s. „Einteilung“) tritt eine Nephrolithiasis i. d. R. erst nach dem 10. Lebensjahr auf , bei Nicht- Typ 1 in ca. 79 % bereits vor dem 10. Lebensjahr (Dötsch 2017).

Die typischen Symptome sind:

  • Auftreten von Koliken, sobald der Stein eine physiologische Enge passiert (wie z. B. den Ausgang des Nierenbeckens, die Gefäßkreuzung des Ureters oder das Ureterostium) bzw. sich an einer Stelle der ableitenden Harnwege obstruierend festsetzt (Kuhlmann 2015).

Bei einer Kolik kann es zu folgenden Symptomen kommen:

  • plötzlich einsetzende stärkste auf- und abschwellende Schmerzen im Bereich der Flanke mit Ausstrahlung:
  • in den Oberbauch oder Rücken bei Obstruktion im proximalen Teil des Ureters 
  • in den Mittel- und Unterbauch bei Obstruktion am Beckenübergang des Ureters
  • in die Leiste, den ipsilateralen Hoden bzw. die ipsilateralen Schamlippen bei Obstruktion im unteren Bereich des Ureters
  • Hämaturie: bei 90 % besteht zumindest eine Mikrohämaturie, eine Makrohämaturie findet sich bei 1 / 3 der Fälle 
  • Dysurie
  • Blasentenesmen
  • motorische Unruhe des Patienten (typisches Symptom)
  • Übelkeit
  • Erbrechen
  • reflektorischer Subileus mit Stuhl- und Windverhalt (Kasper 2015 / Herold 2020)

 

 

Diagnostik

Die Diagnose einer Zystinurie kann durch folgende Charakteristika bzw. Befunde gestellt werden:

  • ausführliche Anamnese
  • Auftreten einer Nephrolithiasis bereits im Kindesalter
  • hohe Aktivität der Lithiasis vor entsprechender Therapie
  • Nachweis hexagonaler Zystinkristalle (vorzugsweise im konzentrierten Morgenurin; die normale Zystinausscheidung liegt bei bis zu 30 mg / d)
  • erhöhte Ausscheidung der vier dibasischen Aminosäuren (s. „Ätiopathogenese“)
  • Analyse abgegangener Konkremente (Kuhlmann 2015)
  • positiver Nitroprussid- Test (s. „Labor“) (Kasper 2015)

Bildgebung

Sonographie: Der Ultraschall stellt die erste Wahl sowohl in der Akutsituation einer Kolik als auch bei der Routineuntersuchung dar (Seitz 2018).

  • Nachweis von Konkrementen (kleine Steine sind mitunter im Ultraschall nicht darstellbar)
  • Nierenstauung
  • Ektasie des Nierenbeckens (Herold 2020)

Röntgenbild:

  • Zystinsteine (u. U. schwach schattengebend [Sigel 1993])
  • bei hohem Schwefelgehalt schattendicht (Kuhlmann 2015)

Computertomographie: Die CT kann als low- dose- CT ohne Kontrastmittel eingesetzt werden, sofern bei der Sonographie kein Konkrement nachweisbar ist und auch beim Auftreten von Komplikationen im Rahmen einer Lithiasis. Die CT liefert außerdem Informationen zur Steinzusammensetzung und zu etwaigen Entzündungsreaktionen (Kuhlmann 2015). Die Sensitivität und die Spezifität liegen bei fast 99 % (Herold 2020).

Weitere diagnostische Maßnahmen s. Nephrolithiasis.

Labor

Urinuntersuchung:

  • Urinteststreifen
  • Mikro- oder Makrohämaturie
  • Leukozyturie
  • Nitrit
  • Protein
  • Glukose
  • Sediment (Bakterien, Kristalle)
  • Anlegen einer Kultur zur Keimdifferenzierung und Anlegen eines Antibiogramms
  • Analyse abgegangener Konkremente
  • 24h- Sammelurin:
    • Harnsäure (bei Uratsteinen erhöht)
    • Kalzium (bei primärem Hyperparathyreoidismus erhöht)
    • Oxalat
    • Zystin
    • Phosphat
    • Dihydroxyadenin (DHA) bei Kindern  (Kasper 2015 / Kuhlmann 2015 / Schmelz 2006)

Blutuntersuchung:

  • Blutgasanalyse
  • kleines Blutbild
  • Elektrolyte
  • CRP
  • Kreatinin
  • Harnstoff
  • Harnsäure
  • PTT und INR bei wahrscheinlicher Intervention (Seitz 2018)
  • -Qualitativer Nachweis von Zystin

Natrium- Nitroprussid- Test (auch Brand- Test genannt): Dieser Test ermöglicht einen qualitativen Nachweis erhöhter Zystin bzw. Homozystin- Werte im Urin. Bei Werten von > 75 mg / l kommt es hierbei zu einer kirschroten bis violetten Färbung des Urins. (Kasper 2015 / Gressner 2019)

Quantitativer Nachweis von Zystin: Die quantitative Bestimmung der Aminosäuren erfolgt durch eine HPLC (High Performance Liquid Chromatography) .Durch diesen Test wird eine Differenzierung zwischen Homozygoten und Heterozygoten ermöglicht. Die normale Zystinausscheidung liegt bei bis zu 30 mg / d. Bei Homozygoten können Mengen von 600 mg – 1.800 mg Zystin täglich ausgeschieden werden. Vorzugsweise sollte man für den Test konzentrierten Morgenurin verwenden, der zuvor - zur Vermeidung einer Präzipitation von Zystin - mit Bikarbonat bis auf einen pH- Wert von > 7,5 alkalisiert wurde (Kuhlmann 2015 / Kasper 2015 / Seitz 2018).

 

Komplikation(en)

  • Harnwegsinfektion (HWI), die bis hin zur Urosepsis führen kann. Beim HWI handelt es sich um die wichtigste und auch häufigste Komplikation einer Lithiasis (Herold 2020).

Frühsymptome einer Urosepsis sind (Schmelz 2006):

  • Tachypnoe (> 20 Atemzüge / min)
  • Tachykardie (> 90 Schläge / min)
  • Hyperthermie (> 38 ° C)
  • Hypothermie (< 36 ° C, in Abwechslung mit Fieberschüben)
  • Harnwegsinfekt mit Ureterstenose und Harnleiterkolik
  • Fornixruptur durch Drucksteigerung im Nierenbeckenkelchsystem

 

 

Therapie

Bei einer akuten Kolik steht die analgetische Behandlung im Vordergrund. 

Hierzu eignen sich:

  • Metamizol: 1 g – 2 g i. v. ist das Mittel der 1. Wahl, da es zusätzlich eine spasmolytische und antinozizeptive Wirkung auf den Harnleiter hat
  • Paracetamol: 1 g i. v. 
  • Diclofenac: 75 mg / kg KG i. v. 
  • Morphin: 0,1 mg / kg KG i. v. 

In einer randomisierten Studie zeigte sich zur Schmerzbekämpfung die Kombination von Paracetamol und Diclofenac der Gabe von Morphin überlegen (Seitz 2018).

Therapie allgemein

Die Löslichkeit des Zystins liegt - einen physiologischen pH- Wert 4,5 – 7,0 des Urins vorausgesetzt - bei ca. 300 mg / d (Kasper 2015). Von daher gibt es mehrere therapeutische Optionen:

  • 1. Zur Senkung der Konzentration des Zystins im Urin sollte der Patient grundsätzlich hohe Trinkmengen von ≥ 3,5 l / d gleichmäßig verteilt über 24 h zu sich nehmen. Bei Kleinkindern ist dafür u. U. die Anlage einer PEG- Sonde erforderlich(Seitz 2018).
  • 2. Zur Reduktion der Zystinausscheidung empfiehlt sich eine Methionin- reduzierte Diät (eiweißreduzierte Diät mit < 100 g Eiweiß / d [Müller 2007]), da durch Methionin im Körper eine Metabolisierung zu Zystin erfolgt (Weigert 2018).
  • 3. Zur besseren Löslichkeit des Zystins sind möglich:
    • 3a. Alkalisierung des Urins auf einen pH- Wert deutlich > 7,5 mit z. B. Natriumbikarbonat. Die Dosis ist abhängig vom Urin- pH, der anfänglich mehrmals täglich gemessen werden sollte. I. d. R. liegt die Dosierung zwischen 40 mmol – 80 mmol / d. Die Löslichkeit des Zystins wird durch die Alkalisierung des Urins verdreifacht (Kuhlmann 2015).
    • 3b. ACE- Hemmer (wie z. B. Captopril, Enalapril). Dieser führen zur Bildung von Thiolcysteindisulfid und damit zur besseren Löslichkeit des Zystins. Die Zystinausscheidung kann so um ca. 50 % reduziert werden (Kuhlmann 2015).
  • 4. Falls die o. g. Maßnahmen nicht ausreichend sind bzw. initial bereits eine sehr hohe Ausscheidung an Zystin vorliegt, wird zusätzlich zu den o. g. Maßnahmen die Behandlung zur Bindung von Zystin im Urin mit folgenden Medikamentenempfohlen (Seitz 2018):
    • 4a: D- Penicillamin, welches mit Zystin zusammen lösliche Heterodimere bildet. Bei D- Penicillamin kann es – insbesondere in hohen Dosen und bei rascher Aufdosierung - zu erheblichen Nebenwirkungen in Form von Exanthem, Fieber, nephrotischem Syndrom etc. kommen (Dötsch 2017). Um diese zu mindern, wird eine langsame Dosissteigerung über mehrere Wochen empfohlen (Kuhlmann 2015). Unter einer D- Penicillamin- Behandlung kommt es zu einer Senkung des Vitamin B 6 Serumspiegels, weshalb Pyridoxin regelmäßig mit hohen Dosen substituiert werden sollte(Weigert 2018). Dosierungsempfehlung bei Zystinurie: bis zu 600 mg / d oral (die Resorption liegt bei 70 %) [Hoffmann 2004].
    • 4b: Tiopronin

Tiopronin ist deutlich nebenwirkungsärmer als D- Penicillamin. Dosierungsempfehlung: z. B. Captimer 7 – 10 mg / kg KG / d, verteilt auf 3 – 4 Einzeldosen (Dötsch 2017).

  • Ascorbinsäure: Ascorbinsäure kann Zystin zu Zystein reduzieren. Da jedoch bislang die Effektivität nicht genau geklärt ist, gestaltet sich der therapeutische Einsatz schwierig.

Es kann außerdem durch den Vitamin C- Abbau zu einer gesteigerten endogenen Oxalat- Produktion kommen (Weigert 2018) und damit zu einer Hyperoxalurie mit der Gefahr einer Kalziumnephrolithiasis (s. a. Harnsteinarten) (Kuhlmann 2015). 

  • Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL):

Zystinsteine eignen sich auf Grund ihrer harten Konsistenz nicht für die Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (Manski 2019)

Weitere therapeutische Maßnahmen wie z. B. 

  • Harnableitung
  • Steinentfernung durch
    • endurologische Eingriffe 
    • perkutane Nephrolithotomie (PCNL)
    • laparoskopische bzw. offene Verfahren 

s. Nephrolithiasis.

 

 

Verlauf/Prognose

Die Prognose einer Zystinurie ist bei entsprechender Therapie und Compliance des Patienten i. d. R. günstig. Mitunter finden sich aber Verläufe, die auf therapeutische Maßnahmen nicht ansprechen. Es kann in diesen Fällen zu einer chronischen Nierenschädigung bis hin zum dialysepflichtigen Nierenversagen (s. Dialyseverfahren) kommen.

(Kuhlmann 2015)

Auch in Unkenntnis der Diagnose kann eine terminale Niereninsuffizienz auftreten, besonders nach:

  • unilateraler Nephrektomie
  • gehäuften operativen Eingriffen (Weigert 2018)

Durch eine Nierentransplantation sind die Patienten von der Zystinurie geheilt (Kuhlmann 2015).

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Dötsch J et al. (2017) Nierenerkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Springer Verlag 135
  2. Gressner A M et al. (2019) Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik. Springer Verlag 482, 1755
  3. Herold G et al. (2020) Innere Medizin. Herold Verlag 567
  4. Hoffmann G F et al. (2014) Pädiatrie: Grundlagen und Praxis. Springer Verlag 478
  5. Hoffmann G F et al. (2004) Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie. Georg Thieme Verlag 165
  6. Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 435e- 2, 1871
  7. Kasper D L et al. (2015) Harrisons Innere Medizin. Georg Thieme Verlag 435e- 1, 2303, 3111
  8. Keller C K et al. (2010) Praxis der Nephrologie. Springer Verlag 85, 87 - 88
  9. Kuhlmann U et al. (2015) Nephrologie: Pathophysiologie - Klinik – Nierenersatzverfahren. Thieme Verlag 568, 598 – 599
  10. Manski D (2019) Das Urologielehrbuch. Dirk Manski Verlag 267 - 272
  11. Müller M J et al. (2007)  Ernährungsmedizinische Praxis: Methoden - Prävention – Behandlung. Springer Verlag 263
  12. Schmelz H U et al. (2006) Facharztwissen Urologie: Differenzierte Diagnostik und Therapie. Springer Verlag 122 – 143
  13. Seitz C et al. (2018) S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis (AWMF Registernummer 043 - 025) 
  14. Sigel A et al. (1993) Kinderurologie Springer Verlag 249 - 251
  15. Weigert A et al. (2018) Genetische Nierensteinerkrankungen. Medizinische Genetik (30) 438 - 447

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