Zystinurie E72.0

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

Alle Autoren dieses Artikels

Zuletzt aktualisiert am: 28.03.2021

This article in english

Synonym(e)

Cystinurie; homozygote Cystinurie; homozygote Zystinurie; schwere Hypercystinurie; schwere Hyperzystinurie

Erstbeschreiber

W. H. Wollaston beschrieb im Jahre 1810 erstmals das Vorhandensein von Zystin in einem mit dem Urin ausgeschiedenen Stein (Hoffmann 2014).

Definition

Unter einer Zystinurie versteht man eine hereditäre Erkrankung, bei der ein Defekt des Transportes im proximalen Tubulus und am Dünndarmepithel vorliegt. Dadurch können Zystin und andere dibasische Aminosäuren, wie das Arginin, Lysin und Ornithin nicht transportiert werden (Walter 2006 / Speer 2005).

Einteilung

Die Zystinurie kommt als homozygote Form vor (sog. „klassische Zystinurie“ [Dötsch 2017]) und als heterozygote Form.

Bei Homozygoten findet sich eine hohe Ausscheidung der Aminosäuren Zystin, Arginin, Lysin und Ornithin.

Bei Heterozygoten differenziert man zusätzlich zwischen zwei Varianten:

  • Typ 1- Heterozygote:

Hierbei ist das Chromosom 2p16.3 betroffen. Das Ausscheidungsmuster für die vier o. g. Aminosäuren ist normal.

  • Non- Typ 1- Heterozygote (ehemals Typ II und III):

Der Non- Typ 1 betrifft das Chromosom 10q13. Es finden sich hierbei mäßig erhöhte Werte aller vier Aminosäuren. 

(Kasper 2015)

Vorkommen/Epidemiologie

Die Zystinurie kommt mit einer Häufigkeit von 1 : 10.000 bis 1 : 15.000 vor (Kasper 22015).

Die durch die Zystinurie gebildeten Steine zählen mit ca. 1 % - 2 % aller Nierensteine zu den eher selten auftretenden (Kasper 2015). 

Sie sind aber bei Homozygoten mit einer Prävalenz von ca. 1 : 7.000 die häufigste genetisch bedingte Steinerkrankung. Bei ca. 10 % der kindlichen Lithiasis handelt es sich um Zystinsteine (Weigert 2018).

Ätiopathogenese

Die Zystinurie zählt zu den autosomal rezessiv vererbbaren Erkrankungen. Sie wird durch Mutationen an zweiunterschiedlichen Chromosomen verursacht: dem Chromosom 2 und 19 bzw. durch Veränderungen beider Chromosomen (Kuhlmann 2015).

Pathophysiologie

Durch den Defekt der Membranträgerproteine in den Darmzellen und im proximalen Tubulussystem der Nieren kommt es zu einer verminderten Rückresorption der folgenden dibasischen Aminosäuren:

  • Zystin 
  • Lysin
  • Ornithin
  • Arginin

Zystin ist von den o. g. als einzige Aminosäure schlecht löslich. Durch die Anhäufung des Zystins (Normwert: 30 mg / 24 d) kommt es ab ca. 300 mg - 400 mg / l durch Präzipitation zu einer Bildung typischer hexagonaler Zystinkristalle, aus denen sich im Bereich der Harnwege Zystinsteine ausbilden können (Herold 2021 / Kasper 2015 / Keller 2010).

Da die Zystinkristalle auch in den Sammelrohren ausfallen, kommt es dort zu einer Gewebeschädigung, die den Funktionsverlust der Nieren erklärt.

(Kuhlmann 2015)

Manifestation

Bereits im Kindesalter kommt es bei der homozyten Form i. d. R. schon zu einer rezidivierenden Nephrolithiasis. 

Bei Heterozygoten Typ 1 (s. „Einteilung“) tritt eine Nephrolithiasis i. d. R. erst nach dem 10. Lebensjahr auf, bei Nicht- Typ 1 in ca. 79 % bereits vor dem 10. Lebensjahr (Dötsch 2017).

Man sollte deshalb im Fall einer bereits im Kindesalter rezidivierend auftretenden Nephrolithiasis auch eine Zystinurie in Betracht ziehen (Kuhlmann 2015).

 

 

Klinisches Bild

Die Symptome der Zystinurie werden durch das schlecht lösliche Zystin hervorgerufen, durch die sich Zystinsteine bilden und diese sämtliche Symptome einer Nephrolithiasis verursachen können (Kasper 2015), die da sind:

  • Auftreten von Koliken, sobald der Stein eine physiologische Enge passiert (wie z. B. den Ausgang des Nierenbeckens, die Gefäßkreuzung des Ureters oder das Ureterostium) bzw. sich an einer Stelle der ableitenden Harnwege obstruierend festsetzt (Kuhlmann 2015).

Bei einer Kolik kann es zu folgenden Symptomen kommen:

  • plötzlich einsetzende stärkste auf- und abschwellende Schmerzen im Bereich der Flanke mit Ausstrahlung:
    • in den Oberbauch oder Rücken bei Obstruktion im proximalen Teil des Ureters 
    • in den Mittel- und Unterbauch bei Obstruktion am Beckenübergang des Ureters
    • in die Leiste, den ipsilateralen Hoden bzw. die ipsilateralen Schamlippen bei Obstruktion im unteren Bereich des Ureters
  • Hämaturie: bei 90 % besteht zumindest eine Mikrohämaturie, die Makrohämaturie findet sich bei 1 / 3 der Fälle 
  • Dysurie
  • Blasentenesmen
  • motorische Unruhe des Patienten (typisches Symptom)
  • Übelkeit
  • Erbrechen
  • reflektorischer Subileus mit Stuhl- und Windverhalt (Kasper 2015 / Herold 2020)

Diagnostik

Die Diagnose kann durch das für die Erkrankung charakteristische Aminosäuremuster im Urin gestellt werden (Speer 2005). Weitere Untersuchungsmöglichkeiten sind z. B.:

  • Zystinbestimmung im Urin mit Nachweis hexagonaler Zystinkristalle (vorzugsweise im konzentrierten Morgenurin; die normale Zystinausscheidung liegt hier bei bis zu 30 mg / d)
  • Analyse abgegangener Konkremente (Kuhlmann 2015)
  • positiver Natrium- Nitroprussid- Test (s. „Labor“)

(Kasper 2015)

Bildgebung

Sonographie:  Der Ultraschall stellt die erste Wahl sowohl in der Akutsituation einer Kolik als auch bei der Routineuntersuchung einer Zystinurie dar (Seitz 2018).

  • Nachweis von Konkrementen (kleine Steine sind mitunter im Ultraschall nicht darstellbar)
  • Nierenstauung
  • Ektasie des Nierenbeckens (Herold 2020)

Röntgenbild: Durch den hohen Schwefelgehalt sind normalerweise Zystinsteine schattendicht, sehr kleine Steine können aber u. U. radiologisch darstellbar sein (Kuhlmann 2015).

Weitere diagnostische Maßnahmen s. Nephrolithiasis.

 

 

Labor

Blutuntersuchung: Die Konzentration der Aminosäuren Zystin, Arginin, Lysin und Ornithin im Blut ist unauffällig (Speer 2005).

Urinuntersuchung: Im Urin findet sich 

  • das für die Erkrankung typische Aminosäuremuster (Speer 2005).

Weitere Untersuchungen können sein:

  • genaue Analyse abgegangener Konkremente (Kuhlmann 2015)
  • Qualitativer Nachweis von Zystin

Natrium- Nitroprussid- Test (auch Brand- Test genannt)

Dieser Test ermöglicht einen qualitativen Nachweis erhöhter Zystin bzw. Homozystin- Werte im Urin. Bei Werten von > 75 mg / l kommt es hierbei zu einer kirschroten bis violetten Färbung des Urins (Kasper 2015 / Gressner 2019).

Quantitativer Nachweis von Zystin: Die quantitative Bestimmung der Aminosäuren erfolgt durch eine HPLC (High Performance Liquid Chromatography) . Durch diesen Test wird eine Differenzierung zwischen Homozygoten und Heterozygoten ermöglicht. Die normale Zystinausscheidung liegt bei bis zu 30 mg / d. Bei Homozygoten können Mengen von 600 mg – 1.800 mg Zystin täglich ausgeschieden werden.

Vorzugsweise sollte man für den Test konzentrierten Morgenurin verwenden, der zuvor - zur Vermeidung einer Präzipitation von Zystin - mit Bikarbonat bis auf einen pH- Wert von > 7,5 alkalisiert wurde (Kuhlmann 2015 / Kasper 2015 / Seitz 2018).

Weitere Laboruntersuchungen s. Nephrolithiasis

Differentialdiagnose

Komplikation(en)

  • zunehmender Funktionsverlust der Niere (s. a. Pathophysiologie) (Kuhlmann 2015)
  • Harnwegsinfekt (HWI), der bis hin zur Urosepsis führen kann. Beim HWI handelt es sich um die wichtigste und auch häufigste Komplikation einer Lithiasis (Herold 2020).
  • Harnwegsinfekt mit Ureterstenose
  • Fornixruptur durch Drucksteigerung im Nierenbeckenkelchsystem (Herold 2020)

Therapie

Sollte es zu einer akuten Kolik kommen, steht zunächst die analgetische Behandlung im Vordergrund. 

Hierzu eignen sich:

  • Metamizol: 1 g – 2 g i. v. ist das Mittel der 1. Wahl, da es zusätzlich eine spasmolytische und antinozizeptive Wirkung auf den Harnleiter hat
  • Paracetamol: 1 g i. v. 
  • Diclofenac: 75 mg / kg KG i. v. 
  • Morphin: 0,1 mg / kg KG i. v. 

In einer randomisierten Studie zeigte sich zur Schmerzbekämpfung die Kombination von Paracetamol und Diclofenac der Gabe von Morphin überlegen.

(Seitz 2018)

Therapie allgemein

Ziel der Therapie ist es, die Bildung von Zystinsteinen zu vermeiden.

Da die Löslichkeit des Zystins - einen physiologischen pH- Wert 4,5 – 7,0 des Urins vorausgesetzt - bei ca. 300 mg / d liegt, (Kasper 2015) ergeben sich mehrere therapeutische Optionen:

  • Zur Senkung der Zystinkonzentration im Urin sollte der Patient grundsätzlich hohe Trinkmengen von ≥ 3,5 l / d gleichmäßig verteilt über 24 h zu sich nehmen. Bei Kleinkindern ist dafür u. U. die Anlage einer PEG- Sonde erforderlich (Seitz 2018).
  • Zur Reduktion der Zystinausscheidung empfiehlt sich eine Methionin- reduzierte Diät (eiweißreduzierte Diät mit < 100 g Eiweiß / d [Müller 2007]), da durch Methionin im Körper eine Metabolisierung zu Zystin erfolgt (Weigert 2018).
  • Zur besseren Löslichkeit des Zystins sind möglich:
    • a. Alkalisierung des Urins auf einen pH- Wert deutlich > 7,5 mit z. B. Natriumbikarbonat. Die Dosis ist abhängig vom Urin- pH, der anfänglich mehrmals täglich gemessen werden sollte. I. d. R. liegt die Dosierung zwischen 40 mmol – 80 mmol / d. Die Löslichkeit des Zystins wird durch die Alkalisierung des Urins verdreifacht (Kuhlmann 2015).
    • b. ACE- Hemmer (wie z. B. Captopril, Enalapril). Dieser führen zur Bildung von Thiolcysteindisulfid und damit zur besseren Löslichkeit des Zystins. Die Zystinausscheidung kann so um ca. 50 % reduziert werden (Kuhlmann 2015).
  •  Falls die o. g. Maßnahmen nicht ausreichend sind bzw. initial bereits eine sehr hohe Ausscheidung an Zystin vorliegt, wird zusätzlich zu den o. g. Maßnahmen die Behandlung zur Bindung von Zystin im Urin mit folgenden Medikamenten empfohlen (Seitz 2018):
    • a: D- Penicillamin, welches mit Zystin zusammen lösliche Heterodimere bildet. Bei D- Penicillamin kann es – insbesondere in hohen Dosen und bei rascher Aufdosierung - zu erheblichen Nebenwirkungen in Form von Exanthem, Fieber, nephrotischem Syndrom etc. kommen (Dötsch 2017). Um diese zu mindern, wird eine langsame Dosissteigerung über mehrere Wochen empfohlen (Kuhlmann 2015). Unter einer D- Penicillamin- Behandlung kommt es zu einer Senkung des Vitamin B 6 Serumspiegels, weshalb Pyridoxin regelmäßig mit hohen Dosen substituiert werden sollte (Weigert 2018). Dosierungsempfehlung bei Zystinurie: bis zu 600 mg / d oral (die Resorption liegt bei 70 %) [Hoffmann 2004].
    • b: Tiopronin: Tiopronin ist deutlich nebenwirkungsärmer als D- Penicillamin. Dosierungsempfehlung: z. B. Captimer 7 – 10 mg / kg KG / d, verteilt auf 3 – 4 Einzeldosen (Dötsch 2017).
  • Ascorbinsäure: Ascorbinsäure kann Zystin zu Zystein reduzieren. Da jedoch bislang die Effektivität nicht genau geklärt ist, gestaltet sich der therapeutische Einsatz bisweilen schwierig. Außerdem kann es durch den Vitamin C- Abbau zu einer gesteigerten endogenen Oxalat- Produktion kommen (Weigert 2018) und damit zu einer Hyperoxalurie mit der Gefahr einer Kalziumnephrolithiasis (s. a. Harnsteinarten) (Kuhlmann 2015). 
  • Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL): Zystinsteine eignen sich auf Grund ihrer harten Konsistenz nicht für die Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (Manski 2019)

Weitere therapeutische Maßnahmen wie z. B. 

  • Harnableitung
  • Steinentfernung durch
    • endurologische Eingriffe 
    • perkutane Nephrolithotomie (PCNL)
    • laparoskopische bzw. offene Verfahren  s. Nephrolithiasis.

Verlauf/Prognose

Die Prognose einer Zystinurie ist bei entsprechender Therapie und Compliance des Patienten i. d. R. günstig. Mitunter finden sich aber auch Verläufe, die auf therapeutische Maßnahmen nicht ansprechen. Es kann in diesen Fällen zu einer chronischen Nierenschädigung bis hin zum dialysepflichtigen Nierenversagen (s. Dialyseverfahren) kommen. 

(Kuhlmann 2015)

Auch in Unkenntnis der Diagnose kann eine terminale Niereninsuffizienz auftreten, besonders nach:

  • unilateraler Nephrektomie
  • gehäuften operativen Eingriffen (Weigert 2018)

Durch eine Nierentransplantation sind die Patienten von der Zystinurie geheilt (Kuhlmann 2015).

 

 

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Dötsch J et al. (2017) Nierenerkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Springer Verlag 135
  2. Gressner A M et al. (2019) Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik. Springer Verlag 482, 1755 
  3. Hegele A et al. (2015) Urologie: Intensivkurs zur Weiterbildung. Thieme Verlag 351
  4. Herold G et al. (2021) Innere Medizin. Herold Verlag 585, 656 – 659, 769
  5. Hoffmann G F et al. (2014) Pädiatrie: Grundlagen und Praxis. Springer Verlag 478
  6. Hoffmann G F et al. (2014) Pädiatrie: Grundlagen und Praxis. Springer Verlag 478
  7. Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 435e- 2, 1871
  8. Kasper D L et al. (2015) Harrisons Innere Medizin. Georg Thieme Verlag 435e- 1, 2303, 3111
  9. Keller C K et al. (2010) Praxis der Nephrologie. Springer Verlag 85, 87 - 88
  10. Kuhlmann U et al. (2015) Nephrologie: Pathophysiologie - Klinik – Nierenersatzverfahren. Thieme Verlag 568, 598 – 599
  11. Manski D (2019) Das Urologielehrbuch. Dirk Manski Verlag 267 – 272
  12. Müller M J et al. (2007) Ernährungsmedizinische Praxis: Methoden - Prävention – Behandlung. Springer Verlag 263
  13. Seitz C et al. (2018) S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis (AWMF Registernummer 043 - 025) 
  14. Speer C P et al. (2005) Pädiatrie Springer Medizin Verlag Heidelberg 132
  15. Walter K (2006) Fallbuch Physiologie: 75 Fälle aktive bearbeiten. Thieme Verlag 54
  16. Weigert A et al. (2018) Genetische Nierensteinerkrankungen. Medizinische Genetik (30) 438 - 447

Weiterführende Artikel (4)

Diclofenac; Metamizol; Morphin; Paracetamol;

Disclaimer

Bitte fragen Sie Ihren betreuenden Arzt, um eine endgültige und belastbare Diagnose zu erhalten. Diese Webseite kann Ihnen nur einen Anhaltspunkt liefern.

Abschnitt hinzufügen

Autoren

Zuletzt aktualisiert am: 28.03.2021