Nierenschäden, medikamentöse

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 14.11.2021

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Synonym(e)

Analgetika- Nephropathie; Arzneimittelinduzierte Nephropathie; Arzneimittelinduzierte Nephropathien; Medikamentöse Nephropathie; Medikamentöse Nierenschädigungen; Toxische Nephropathie; Toxischer Nierenschaden; Tubulointerstitielle Nephritiden; Tubulointerstitielle Nephropathien

Erstbeschreiber

Im Jahre 1878 beschrieb Jean-Martin Charcot (1825-1893) erstmals das Krankheitsbild einer akuten interstitiellen Nephritis (Risler 2008 / Eknoyan 2011). Councilman berichtete 1897 über insgesamt 8 Fälle einer akuten interstitiellen Nephritis als Folge einer immunologischen Reaktion (Kasper 2015). 

Definition

Ein medikamentöser Nierenschaden verursacht eine tubulointerstitielle Nierenerkrankung, die akut oder chronisch verlaufen kann. 

Die akute Verlaufsform ist gekennzeichnet durch das Auftreten entzündlicher Infiltrate im Bereich des Interstitiums der Niere und stellt eine spezielle Form des akuten Nierenversagens dar.

Die chronische Form hingegen führt zu einer Vernarbung im Bereich des tubulären Interstitiums.

(Kuhlmann 2015)

 

 

Einteilung

Ein medikamentöser Nierenschaden kann auf zweierlei Arten hervorgerufen werden:

  • durch eine allergisch- immunologische Reaktion (sog. tubulointerstitielle Nephritis [Keller 2010]). Diese kann praktisch durch alle Medikamente ausgelöst werden, typische Vertreter sind dabei Diuretika wie z. B. Furosemid oder Hydrochlorothiazid.
  • durch tubulo- toxische Effekte (sog. tubulointerstitielle Nephropathie [Keller 2010]). Diese Medikamente bewirken eine dosisabhängige Schädigung der Nieren. Zu diesen zählen z. B. Chemotherapeutika mit Platinderivaten u. v. a. (Risler 2008)

Die medikamentös bedingten Nierenschäden werden unterteilt in:

  • 1. Akut toxisch: Hierbei besteht eine dosisabhängige Schädigung der Nieren mit z. B. Aminoglykosiden, Cephalosporinen, Chinolonen (Herold 2021).
  • 2. Chronisch toxisch: Chronisch toxische Nierenschäden sind ebenfalls dosisabhängig. Verursacht werden können sie z. B. durch Paracetamol, Phenacetin (Herold 2021).
  • 3. Hypersensitivitätsreaktion: Diese tritt dosisunabhängig auf und führt zu einer akuten Tubulusnekrose (ATN). (Herold 2021)
  • 4. Akutes Nierenversagen:

Ein akutes Nierenversagen kann ebenfalls im Rahmen einer Medikamentengabe auftreten, z. B. durch:

  • Lipidsenker z. B.:
    • CSE- Hemmer
    • Fibrate
  • Anticholinergika
  • Neuroleptika
  • Röntgenkontrastmittel
  • Transfusionszwischenfall
  • Drogenabusus etc. (Herold 2021)

Vorkommen

Eine medikamentöse Nierenschädigung findet sich in unselektierten Kollektiven bei ca. 2 % - 3 % aller Nierenbiopsien (Risler 2008).

Die akute Form kompliziert ca. 5 % - 7 % aller Krankenhausbehandlungen auf peripheren Stationen und ca. 30 % auf Intensivstationen. Seit 1980 hat sich diese Zahl mehr als vervierfacht. 

Die Inzidenz ist aber wahrscheinlich noch viel höher, da oftmals unmittelbar nach einem Kreatininanstieg ein sofortiger Präparatewechsel erfolgt (Kasper 2015).

Ätiologie

  • Akute interstitielle Nephritis:

Medikamente verschiedener Stoffgruppen können eine akute interstitielle Nephritis hervorrufen. NSAR speziell können daneben noch ein Akutes Nierenversagen oder die Minimal- change- Glomerulonephritis auslösen (Keller 2010).

Zu den Medikamenten, die eine akute interstitielle Nephritis auslösen können, zählen:

  • Antibiotika wie z. B.
    • Aciclovir
    • Betalaktame
    • Chinolone
    • Erythromycin
    • Ethambutol
    • Linezolid
    • Minocyclin
    • Rifampicin
    • Sulfonamide 
    • Vancomycin (Kasper 2015)
  • nicht- steroidale Antiphlogistika wie z. B.:
    • Acetylsalicylsäure
    • Ibuprofen
    • Indometacin
    • Mesalazin
    • Naproxen (Kuhlmann 2015)
    • COX- 2- Hemmer
  • Diuretika wie z. B.:
    • Schleifendiuretika
    • Thiazide
    • Triamteren
  • Antiepileptika wie z. B.:
    • Carbamazepin
    • Phenobarbital
    • Phenytoin
    • Valproinsäure
  • verschiedene Medikamente wie z. B.:
    • Allopurinol
    • Captopril
    • H2- Blocker
    • Indinavir
    • Lenalidomid
    • Mesalazin
    • Protonenpumpenhemmer (Kasper 2015)
  • Chemotherapeutika (selten)
  • monoklonale Antikörper wie z. B.:
    • Bevacizumab
    • Ipilimumab (Kuhlmann 2015)
  • Chronisch- interstitielle Nephritis:

Auch bei der chronischen Form sind Medikamente eine der häufigen auslösenden Ursachen. 

Zu den Medikamenten zählen z. B.:

  • Analgetika (bekanntester Vertreter ist die Analgetikanephropathie (Keller 2010):
    • insbesondere Mischpräparate
    • Präparate, die Phenacetin enthalten
  • Blei
  • Calcineurin- Inhibitoren wie z. B.
    • Ciclosporin
    • Tacrolimus 
  • Cadmium
  • Lithium
  • Aristolochiasäure (besonders in chinesischen Kräutern enthalten) (Kasper 2015)

Pathophysiologie

Medikamente können vaskulär, tubulo- toxisch, tubulo- obstruktiv und immunologisch interstitiell an insgesamt 5 Orten im Nephron Schaden bewirken:

1. Gefäße: Hierbei kann es zu einem Abfall der glomerulären Filtrationsrate (GFR) kommen durch:

  • eine präglomeruläre Vasokonstriktion (bei Ciclosporin, Tacrolimus etc.)
  • eine Vasodilatation (bei ACE- Hemmer etc.)
  • eine thrombotische Mikroangiopathie (bei Ciclosporin, Mitomycin, Tacrolimus etc.) (Risler 2008)

2. Glomerulus: Die glomeruläre Schädigung bewirkt eine Proteinurie und einen GFR- Abfall. Verursacht werden kann diese durch Penicillin, Interferone etc. (Risler 2008).

3. Tubuluszelle: Hierbei wird intrazellulär die Phospholipidstruktur der Lysosomen durch Medikamente wie z. B. Aminoglykoside zerstört und es kommt zu Nekrosen der Tubuli (Risler 2008).

4. Tubuluslumen: Zu Schädigung des Tubuluslumens führt bevorzugt das Medikament Aciclovir. Dieses kristallisiert tubulär bei zu schneller Applikation oder zu hoher Dosierung und fällt aus. Aber auch Statine oder Fibrate können Schäden des Tubuluslumens hervorrufen, da diese Medikamente zur Rhabdomyolyse führen können und das Myoglobin die Tubuli verstopft (Risler 2008).

5. Interstitium: Im Prinzip aber können alle Medikamente, die eine allergische Reaktion bewirken, diese Schädigung hervorrufen. Typische Schäden sind hierbei lymphozytäre Infiltrate im Interstitium. Ein klassischer Vertreter dieser Schädigung sind nicht- steroidale Antirheumatika (NSAR) (Risler 2008).

Lokalisation

Ein durch Medikamente hervorgerufener Nierenschaden kann sich unterschiedlich auf das Nierengewebe auswirken:

Klinisches Bild

Akute interstitielle Nephritis: Bei einer akuten, medikamentös ausgelösten tubulointerstitiellen Nierenerkrankung können folgende Symptome auftreten:

  • Fieber
  • symmetrisches Exanthem
  • Eosinophilie
  • mäßige Proteinurie
  • Oligurie (tritt bei ca. 60 % auf [Kuhlmann 2015])
  • Anurie (Kasper 2015)
  • renale Azidose
  • Fanconi- Syndrom
  • Elektrolytstörung (Kuhlmann 2015)
  • Flankenschmerzen (Kapseldehnungsschmerz)
  • Mikrohämaturie (Risler 2008)

Diese typischen Symptome fehlen meistens bei einer durch NSAR ausgelösten interstitiellen Nephritis. Hierbei findet sich eher - neben einer atypischen Symptomatik - eine große Proteinurie (Kasper 2015).

Chronisch- interstitielle Nephritis: Ein chronischer medikamentöser Nierenschaden verursacht i. d. R. kaum Symptome. Von daher kann die Diagnose oftmals erst sehr spät gestellt werden (Risler 2008). 

Eine etwaig bestehende Oligurie bzw. Anurie ist nur geringgradig ausgeprägt (Kuhlmann 2015)

 

Diagnostik

Erste laborchemische Veränderungen einer interstitiellen Nephritis sind:

  • ein Anstieg des Serum- Kreatinins um ≥ 0,3 mg / dl innerhalb von 24 – 48 Stunden oder eine 50 % Erhöhung des Ausgangswertes
  • Reduktion der Urinmenge über mehr als 6 Stunden von 0,5 ml / kg (Kasper 2015)

Risler (2008) empfiehlt sogar, jeden plötzlichen Kreatinin- Anstieg zunächst als verdächtig auf eine Arzneimittel- Toxizität anzusehen.

Chronische interstitielle Nephritis: Da ein missbräuchlicher Schmerzmittelkonsum meistens geleugnet wird, sollten hierbei primär bestehende Schmerzen erfragt werden und dann erst nach Medikamenten, die dagegen eingenommen werden (Risler 2008). Die Dauer der Medikamenteneinnahme liegt in den meisten Fällen bei > 1 Monat (Kuhlmann 2015).

 

Bildgebung

Sonographie

Eine sonographische Untersuchung zur Feststellung der Nierengröße ist obligat (Risler 2008). 

  • Bei einer akuten interstitiellen Nephritis können sich die Nieren normal groß oder vergrößert darstellen (Kasper 2015). 
  • Bei der chronischen Form kommt es zu einer Schrumpfung des Nierengewebes (Kuhlmann 2015). 

Native Computertomographie

Bei V. a. eine Schmerzmittelnephropathie können in der CT unregelmäßige Konturen und / oder Verkalkungen nachweisbar sein (Risler 2008).

Nierenbiopsie

Die Nierenbiopsie ist nur in bestimmten Fällen erforderlich wie z. B.:

  • nach Absetzen der Medikamente bessert sich die Nierenfunktion nicht
  • bei einem akuten Nierenversagen, welches dialysepflichtig wird, sich nicht spontan wieder erholt und die Ursache bislang unklar geblieben ist (Risler 2008).

Labor

Akute interstitielle Nephritis:

  • Anstieg des Kreatinins
  • Eosinophilie (wird nur bei wenigen Patienten gefunden)
  • Anämie
  • Hyperkaliämie
  • Hyperphosphatämie
  • Hypokalzämie
  • Mikrohämaturie (Kasper 2015)
  • Auftreten von Leukozyten und Leukozytenzylindern im Urinsediment
  • Eosinurie
  • Pyurie
  • mäßige Proteinurie (Keller 2010)

Chronisch interstitielle Nephritis:

  • Anämie
  • Hyperkaliämie
  • Hyperphosphatämie
  • Hypokalzämie
  • metabolische Azidose (Paumgartner 2013)
  • Im Urinsediment finden sich 
    • vereinzelt Erythrozyten
    • keine Erythrozytenzylinder
    • insgesamt wenig Zellen
    • Leukozyturie
    • tubuläre Epithelzellzylinder (typisch für die chronische Form)
  • Urinelektrophorese
    • niedermolekulare Eiweiße
    • Lysozyme
    • Beta- 2- Mikroglobulin
  • Proteinurie < 1,5 g / d
  • Glukosurie
  • Aminoazidurie (Kuhlmann 2015)

Histologie

Akute interstitielle Nephritis:

  • Ödem in Interstitium
  • Zellinfiltrate von Eosinophilen, Monozyten, T- Lymphozyten, Neutrophilen, Plasmazellen, selten auch Granulome (Keller 2010)

Chronisch interstitielle Nephritis:

  • Tubulusatrophie
  • Infiltration von Makrophagen und Lymphozyten
  • interstitielle Fibrose (Kuhlmann 2015)

Differentialdiagnose

Akute interstitielle Nephritis:

  • akute Immunkomplex- Glomerulonephritis
  • akute Tubulusnekrose (Kuhlmann 2015)

Chronisch interstitielle Nephritis:

  • glomeruläre Läsion

Diese lässt sich sicher nur durch eine Biopsie klären. Eine gewisse Differenzierung ist aber auch möglich und zwar durch Bestimmung des Alpha- 1- Mikroglobulins im Urin und der anschließenden Berechnung der Quotienten von Urin / Albumin oder Urin / Protein (Kuhlmann 2015).

  • Refluxnephropathie
  • obstruktive Uropathie (Kuhlmann 2015)
  • atheroembolische Nephropathie (Kasper 2015)

Komplikation(en)

  • Urämie
  • Hyper – oder Hypovolämie
  • Hyponatriämie
  • Hyperkaliämie
  • Azidose
  • Hyperphosphatämie
  • Hypokalzämie
  • Blutungen
  • Infektionen
  • Malnutrition
  • kardiale Komplikationen

(Kasper 2015)

Therapie

Das sofortige Absetzen des auslösenden Medikamentes ist obligat. Dadurch kommt es bei 70 % der Fälle zur unmittelbaren Verbesserung der Symptomatik (Kuhlmann 2015).

Glukokortikoide: Die Gabe von Glukokortikoiden scheint die Erholung der Nierenfunktion zwar zu beschleunigen, sollte aber schweren Fällen, bei denen z. B. eine Nierenersatztherapie ansteht oder es trotz Absetzen des auslösenden Medikamentes zu einer weiteren Verschlechterung der Nierenwerte kommt, vorbehalten bleiben, zum einen wegen des Komplikationsrisikos einer Immunsuppression (Kuhlmann 2015) und zum anderen da die langfristige Prognose von der Kortikoidgabe unbeeinflusst bleibt (Kasper 2015).

Dosierungsvorschlag: Initial 3 – 4 Stöße Methylprednisolon von 250 mg – 500 mg und anschließende Therapie mit 1 mg / kg / KG Prednisolon über 8 – 12 Wochen (Kuhlmann 2015).

Bei der chronischen Verlaufsform sollte von einer Kortikoidtherapie abgesehen werden, da diese nicht zu einer Verbesserung der Nierenleistung führt (Kuhlmann 2015). 

Neben dem oben erwähnten Absetzen der auslösenden Medikamente sind hierbei lediglich symptomatische Maßnahmen möglich wie z. B. bei Auftreten einer:

  • Azidose:

Beseitigung der Azidose z. B. mit Azetolyt oder Azethol- Lösung

  • Anämie:

Gabe von Erythrozytenkonzentraten oder Erythropoetin

  • Hypovolämie:

Zufuhr entsprechender Flüssigkeitsmengen, die der Hypovolämie angepasst ist

  • Elektrolytverluste:

Substitution der fehlenden Elektrolyte

Nierenersatztherapie bzw. Nierentransplantation (Paumgartner 2013)

Prognose

Die akute Verlaufsform der tubulointerstitiellen Nephritis ist i. d. R. reversibel. Bei der chronischen Verlaufsform kann das Absetzen des auslösenden Medikamentes teilweise ein Fortschreiten der Nephropathie verhindern (Kuhlmann 2015).

Eine Kontrastmittel- Nephropathie ist innerhalb einer Woche reversibel (Risler 2008).

Literatur
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  1. Eknoyan G (2011) Jean-Martin Charcot - Neurologist by Avocation, Nephrologist by Yearning. Journal of Nephrology (17) 4 - 11
  2. Herold G et al. (2021) Innere Medizin. Herold Verlag 624 – 625, 635 - 639
  3. Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 1799 - 1811, 1856 - 1863
  4. Kasper D L et al. (2015) Harrisons Innere Medizin. Georg Thieme Verlag 2211 – 2224, 2286 - 2293
  5. Keller C K et al. (2010) Praxis der Nephrologie. Springer Verlag 128 – 132, 134 - 136
  6. Kuhlmann U et al. (2015) Nephrologie: Pathophysiologie - Klinik – Nierenersatzverfahren. Thieme Verlag 511 – 523
  7. Paumgartner G et al. (2013) Therapie Innerer Krankheiten. Springer Verlag 402 - 403
  8. Risler T et al. (2008) Facharzt Nephrologie. Elsevier Urban und Fischer Verlag 317 – 322, 544 - 550, 892 - 901
  9. Wolff / Weihrauch T R et al. Internistische Therapie 2020 – 2021. (2020) Elsevier Urban und Fischer Verlag 760 - 761

Weiterführende Artikel (5)

Aciclovir; Ciclosporin A; Interferone; Penicilline; Tacrolimus;
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