Toxische epidermale Nekrolyse L51.2

Autoren: Prof. Dr. med. Peter Altmeyer, Prof. Dr. med. Martina Bacharach-Buhles, Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 08.09.2023

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Synonym(e)

Epidermolysis acuta toxica; Epidermolysis necroticans combustiformis; Lyell-Syndrom; Lyell-Syndrom medikamentöses; medikamentöses; Nekrolyse toxische epidermale; SJS/TEN; Syndrom der verbrühten Haut; TEN; toxic epidermal necrolysis

Erstbeschreiber

Lyell, 1956

Definition

Schwere Maximalvariante einer Arzneimittelreaktion, die durch eine großflächige Ablösung der Haut sowie der Schleimhäute, schwere systemische Begleiterscheinungen und durch eine hohe Mortalität (20-50%) gekennzeichnet ist. Das Risiko einer TEN ist zwischen dem 4. und 28. Tag nach Initiierung einer medikamentösen Therapie am höchsten. Die Erkrankung wird als Maximalvariante des SJ-Syndroms ( Stevens-Johnson-Syndrom) mit einem Mindestbefall von > 30% der Körperoberfläche aufgefasst.

Vorkommen/Epidemiologie

  • Inzidenz: Etwa 0,15-0,18/100.000 Einwohner/Jahr.
  • Gehäuft bei Patienten mit manifestem AIDS (Inzidenz liegt bei HIV-Infizierten bei 100/100.000 pro Jahr).

Ätiopathogenese

  • Die Pathogenese ist unbekannt. Klinische und histologische Ähnlichkeiten zu schweren kutanen Graft-versus-host-Reaktionen lassen eine gemeinsame Pathogenese vermuten. Nachweislich lösen verschiedene Medikamente wie Cotrimoxazol und andere Sulfonamide, Antiepileptika, Allopurinol (wahrscheinlich häufigste Ursache!), Oxicam (nichtsteroidales Antirheumatikum), Psychopharmaka, Antikonvulsiva (z.B. Phenytoin und Phenobarbital), Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z.B. Fluoxetin) eine TEN aus.
  • Für die breit angewandten Medikamente wie Beta-Blocker, ACE-Hemmer, Calciumkanalblocker, Thiazide, Furosemid, Sulfonylharnstoffe und Insulin konnte kein Beweis für ein erhöhtes Risiko nachgewiesen werden.
  • Impfungen ( Masern, Mumps, Röteln) wurden vereinzelt in der Literatur als Auslöser beschrieben. Für spezifische Begleiterkrankungen wie HIV, Kollagenosen, Tumorerkrankungen, Strahlentherapie und akute Infekte innerhalb der letzten 4 Wochen konnte ein signifikantes Risiko errechnet werden.

Manifestation

  • Vorwiegend sind Frauen betroffen (bis zu 10mal häufiger als Männer).
  • Das Durchschnittsalter liegt bei 60-70 LJ.
  • Kinder und Jugendliche sind sehr selten betroffen.

Lokalisation

Meist sind Gesicht, Rumpf und die Streckseiten der Extremitäten betroffen.

Klinisches Bild

  • Zunächst feinfleckiges, später konfluiertes, großflächiges initial makulöses, in der Folgezeit makulo-papulöses und schließlich vesikulöses Exanthem. Weiterhin: flächenhafte Epidermisablösung (epidermale Nekrolyse) mit handtuchartig abschiebbarer Haut.
  • Frühe Beteiligung von Ober- und Unterlidern mit hämorrhagisch verkrustenden Erosionen.
  • Konjunktivitis mit Neigung zu Symblepharon-Bildung.
  • Mund - und Genitalschleimhaut: entzündlich gerötet, Erosionen, Ulzerationen, hämorrhagische Verkrustung, evtl. Verwachsungen.
  • Allgemein: Hohes Fieber, ggf. Somnolenz, Abgeschlagenheit
  • Häufig rasche Intensivpflichtigkeit!

Labor

Lymphopenische Leukozytose. Alpha- und Gamma-Globulinfraktion sind erhöht.

Histologie

  • Flächenhafte Nekrolyse der Epidermis mit intra- und subepidermaler Blasenbildung. Blaseninhalt ist meist hämorrhagisch. Weiterhin zeigen sich ödematisierte Dermis, epitheliotrope rundzellige Infiltrate und Vasodilatation.
  • Kryostatschnitt: Zur Schnelldiagnostik ist eine Biopsie mit einer frischen Blasendecke erforderlich, die von der gesamten Epidermis gebildet wird.

Differentialdiagnose

Komplikation(en)

  • Haut: Vernarbungen, Pigmentstörung, Nagelwachstumsstörungen (Beau-Reilsche Querfurchen der Nägel, Nagelverlust). Diffuse toxische Alopezie (meist reversibel) (s. Alopezie). Bakterielle oder virale Infektionen der Haut. Gefahr der Sepsis mit Entwicklung eines Schocks und Multiorganversagen (häufigste Todesursache). Schleimhautveränderungen an Oropharynx, Genitale oder Analregion.
  • Augen: Initial mukopurulente Entzündung, Konjunktiva-Nekrose (Becherzellzerstörung, Verhornung), Hornhautulzera. Spätfolgen sind Vernarbungen mit Trichiasis, Keratokonjunktivitis sicca oder Synechien.
  • Nieren: Tubuläre Nekrose.
  • Lungen: Respiratorisches Versagen.
  • Magen-Darm-Trakt: Blutungen.
  • Blut: Leukopenie
  • Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Proteinverluste.

Therapie allgemein

Allgemeine Richtlinien zur Therapie der TEN:
  • Intensivpflege in entsprechend eingerichteten Therapieeinheiten.
  • Absetzen der infrage kommenden Medikamente.
  • Isolierung/Infektionsschutz (Schleuse einrichten).
  • Aseptische Schutzkleidung: Schutzkittel, Mundschutz, Handschuhe für ärztliches und pflegerisches Personal.
  • Ausreichende Wärmezufuhr (exakte Temperaturregelung).
  • Auf ausreichenden Feuchtigkeitsgehalt der Zimmerluft achten.
  • Spezialbett zur Dekubitusprophylaxe verwenden und Lagerung auf Metallinefolie.
  • Ggf. Blasenkatheter legen, Urin- u. Flüssigkeitsbilanzierung.
  • Dokumentation der erhobenen Befunde (Ausdehnung, Schweregrad auf Intensivbehandlungsbögen).
  • Tgl. Abstriche der Wundflächen vornehmen (Kultur mit Resistenzverhalten; Gefahr durch Pseudomonasbesiedlung und andere Superinfektionen).
  • Therapie der Komplikationen (Sepsis, Blutungen).

Interne Therapie

Glukokortikoide: Der Einsatz von systemischen Glukokortikoiden wird kontrovers diskutiert. Einige Studien weisen auf eine schlechtere Prognose bei hoch dosierter Glukokortikoid-Medikation hin. Eine kurzfristige Stoßtherapie wird dennoch immer noch empfohlen (1000-250-100-20 mg Prednisolon am 1. bis 4. Tag i.v.). Ulkusprophylaxe mit Ranitidin (z.B. Zantic) 150 mg/Tag.

Ciclosporin A: Bisher kontrovers diskutiert, konnten in einer größeren spanischen Studie (n=26 Pat.) gegenüber einem nicht mit Ciclosporin A-behandelten Kollektiv (IVIG-Therapie) eine signifikante Absenkung des Mortalitätsrisikos nachgewiesen werden (Gonzales-Herrada C et al. (2017).     

IVIG: Initial 1,0 g/kg KG für 4 Tage und Erhaltungstherapie von 0,5 g/kg KG (4-Wochenrhythmus) über mehrere Monate bei Therapieresistenz anderer Regime. Datenlage: Die Effizienz der IVIG-Therapie wird auf der Basis von Evidenzlevel IIA Studien kontrovers diskutiert.

Antibiotika (nur bei Superinfektion): Antibiotische Abdeckung mit Cephalosporinen wie Cefotaxim (z.B. Claforan) 2mal/Tag 2 g i.v., ggf. in Kombination mit Gentamicin (z.B. Refobacin) 240 mg/Tag i.v. Tgl. Abstriche an den Wundflächen und ggf. Umstellung der Antibiose nach Antibiogramm.

Schmerztherapie: Morphin (z.B. MST Tbl.) 10-30 mg alle 8 Std. oder Opioide wie Tramadol (Tramal) 100 mg alle 4-6 Std. (max. 400 mg/Tag).

  • Flüssigkeitsbilanzierung: Bei schweren Verläufen Bilanzierung von Flüssigkeit und parenterale Ernährung einleiten. Dosierungsschema pro Tag:
    • Kolloidale Lösung 1 ml/kg KG x befallene KO.
    • Elektrolytlösung (physiologische Kochsalzlösung) 1 ml/kg mal befallene KO.
      Bei Stabilisierung: Übergang auf hochkalorische Flüssigkost (z.B. Meritene). Später Diät mit passierter Nahrung; keine Gewürze, keine Fruchtsäuren.
  • Merke! Regelmäßig intravenöse Zugänge kontrollieren (hohe Kontaminationsgefahr)!

  • Merke! Bei Glukokortikoid-Gabe und der Therapie mit Ciclosporin A, muss eine bakterielle Ursache der TEN (Staphylogenes Lyell-Syndrom) sicher ausgeschlossen sein!

 

Verlauf/Prognose

Die Letalität beträgt ca. 20-25%, in kleineren Studien bis zu 60%. Intensivmaßnahmen sind notwendig. Die Hautveränderungen heilen meist ohne Narben ab. Durch Bastuji-Garin et al. wurde ein Score erarbeitet, der eine prädiktive Aussage zur Mortalität erlauben soll. S.u. SCORTEN.

Hinweis(e)

Merke! Meldung an das Dokumentationszentrum schwerer Hautreaktionen, Universitäts-Hautklinik Freiburg, Hauptstr. 7, 79104 Freiburg. Web: http://www.ukl.uni-freiburg.de/haut/dzh/homede.htm

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

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