Funktionelle Oligurie R34

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 25.01.2022

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Synonym(e)

Harnverhalt; Ischurie; verminderte Harnausscheidung; vermindertes Harnvolumen

Erstbeschreiber

Die Oligurie wurde bereits zu einer Zeit beschrieben, in der Hippokrates die prognostische Bedeutung der Harnausscheidung erkannte. Galen schlug im 2. Jahrhundert vor, die Urinausscheidung als Indikator für die Nierenfunktion zu verwenden.

Im Jahre 1802 beschrieb William Heberden die Suppression der Urinausscheidung als „ischiuria renalis“ (Turner 2015).

Zwischen den beiden Weltkriegen veröffentlichte Reinwein eine Abhandlung über die mit einem hohen spezifischen Harngewicht einhergehende Oligurie. Nonnenbruch fasste im Jahre 1942 die Oligoanurie beim extrarenalen Nierensyndrom zusammen (Mohr 1968).

Definition

Unter einer funktionellen Oligurie versteht man die durch eine funktionelle Erniedrigung der glomerulären Filtrationsrate hervorgerufene Verminderung der täglichen Harnausscheidung auf < 500 ml (Herold 2022). Der Tubulusapparat ist dabei morphologisch intakt (Guder 1989). Im angelsächsischen Raum spricht man erst ab einer Harnausscheidung von < 400 ml / d von einer Oligurie (Kasper 2015).

Einteilung

Eine Oligurie kann auftreten im Rahmen:

- des prärenalen Nierenversagens durch eine Exsikkose als sog. funktionelle Oligurie (Braun 2022)

- des intra- oder postrenalen Nierenversagens (Scheurlen 2013)

- einer chronischen Niereninsuffizienz (Braun 2022)

Vorkommen/Epidemiologie

Die funktionelle Oligurie tritt in bis zu 80 % als Ursache einer Oligurie / Anurie auf (Braun 2022)

Sie findet sich besonders im Alter, da bei Älteren oftmals ein vermindertes Durstgefühl besteht (Gesenhues 2020). 

Ätiopathogenese

Die Ursache der funktionellen Oligurie ist eine Exsikkose mit daraus resultierender Hypovolämie (Scheurlen 2013).

  • Hypovolämie durch z. B.
    • Flüssigkeitsverluste aus:
      • Magen- Darmtrakt z. B. bei Erbrechen, Diarrhoen etc.
      • der Haut z. B. durch Verdunstung, Verbrennungen etc.
      • Atmungssystem z. B. durch Verdunstung (Kasper 2015)
      • vermehrter Urinausscheidung bei z. B. Glukosurie (Haider 2021)
    • durch Flüssigkeitsansammlungen im:
      • Peritoneum
      • Interstitium
      • Gastrointestinaltrakt 
    • starke Blutungen (Kasper 2015)
    • nach langem Dursten (Herold 2022)
    • medikamentös durch z. B. Diuretika
    • bei beidseitigem Nierenarterienverschluss (sehr selten vorkommend, z. B. im Rahmen eines disseziierenden Aortenaneurysmas [Braun 2022])
    • im Rahmen bestimmter Erkrankungen wie z. B.:
    • traumatisch bedingt 
    • bei chirurgischen Eingriffen (Haider 2021)

Pathophysiologie

Durch die verminderte Nierendurchblutung kommt es zu einer Aktivierung neurohormonaler Signalwege, die zu einer erhöhten Produktion führen von:

Diese lösen eine verstärkte Rückresorption von Wasser und Salz aus, was zur Bildung einer verminderten Menge konzentrierten Harns führt. Eine gewisse Zeit lang können so die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) und ein ausreichender renaler Blutfluss (RBF) aufrecht erhalten bleiben. Ohne entsprechende Flüssigkeitskorrekturen kommt es im weiteren Verlauf zum Absinken der GFR und des RBF und damit zum Auftreten eines akuten Nierenversagens (Haider 2021).

Klinisches Bild

Unspezifische Symptome wie z. B.:

  • allgemeine Schwäche
  • Müdigkeit
  • Haltungsschwindel
  • Durst 

Im weiteren Verlauf können hinzukommen:

  • abdominelle bzw. thorakale Schmerzen
  • Verwirrtheit
  • Bewusstlosigkeit
  • periphere Zyanose
  • Muskelschwäche bei Patienten mit zusätzlicher Hypokaliämie (Kasper 2015)
  • Fieber (Gesenhues 2020). 
  • dunkle Urinfarbe (Braun 2022)
  • anamnestisch bestehender Wechsel von Oligurie und Polyurie (deutet auf intermittierende Obstruktionen der Harnwege hin = postrenales Nierenversagen [Haider 2021])

Diagnostik

Eine ausführliche Anamnese mit Schwerpunkt auf eventuell vorhandene Vorerkrankungen, insbesondere arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, kardiale Erkrankungen, Nephrolithiasis, Autoimmunerkrankungen ist bei Patienten mit funktioneller Oligurie von Bedeutung, außerdem die Medikamentenanamnese (Haider 2021).

Körperliche Untersuchung:

  • trockene Schleimhäute (Scheurlen 2013)
  • stehende Hautfalten
  • verminderter jugulärer Venendruck
  • orthostatische Hypotonie (beim Aufstehen kommt es zu einem Blutdruckabfall von > 10 – 20 mmHg)
  • kalte Extremitäten (Kasper 2015)
  • Blutdruck:

Bei einer hypertonen Dehydratation bleibt der Blutdruck lange Zeit normal. Bei einer hypotonen Dehydratation hingegen kommt es früh zu einer arteriellen Hypotonie mit der erheblicher Kollapsneigung (Gesenhues 2020)

ZVD- Messung

Je nach hämodynamischem Status des Patienten kann eine Überwachung des zentralvenösen Drucks erforderlich sein (Haider 2021).

Bildgebung

Sonographie mit Doppler

  • Ausschluss der Nieren und ableitenden Harnwege auf einen Harnverhalt (Braun 2022).
  • Bestimmung des Nierenwiderstandsindex zur Beurteilung der Nierendurchblutung (Haider 2021)
  • eventuell bestehende Hinweise auf Aszites, Pleuraerguss etc.

Labor

Typische Laborwerte bei der funktionellen Oligurie im Vergleich zum  akuten Nierenversagen (AKI) sind:

  • Harnstoff im Serum erhöht (ebenfalls bei einer Oligurie durch AKI)
  • Kreatinin nur leicht erhöht (beim AKI deutlich erhöht)
  • spezifisches Gewicht > 1.025 g / l (beim AKI < 1.015 g / l)
  • Osmolalität > 1.000 mosm / kg (beim AKI < 600 mosm / kg) (Herold 2022)
  • Verhältnis von Urin- zu Plasmaosmolarität > 1,5 (beim AKI < 1,1 (Haider 2021)
  • Natriumkonzentration im Urin < 20 mmol / l (beim AKI > 20 mmol / l [Bergmann2013])
  • fraktionierte Natriumausscheidung < 1 % (beim AKI > 1 % (Haider 2021)
  • Serumkonzentration Harnstoff / Kreatinin > 30 (beim AKI < 20 [Häussler 2006])

Weitere laborchemische Auffälligkeiten können sein:

  • Hämatokrit erhöht
  • Gesamteiweiß erhöht
  • Plasmaosmolalität erhöht
  • Harnstoff meistens stark erhöht (Kreatinin nur mäßig)
  • ADH- Ausschüttung nimmt zu
  • das Renin- Angiotensin- Aldosteron- System wird stimuliert (Scheurlen 2013)
  • Blutgasanalyse (BGA):

Hierbei kann eine metabolische Azidose mit vermindertem Bikarbonat vorhanden sein (Kasper 2015)

  • Neutrophile Gelatinase – assoziierte Lipocalin (NGAL):

Egal et al. zeigten in einer Studie aus dem Jahr 2016, dass durch NGAL eine Differenzierung zwischen funktioneller Oligurie und dem akuten Nierenversagen möglich ist (Egal 2016).

Differentialdiagnose

Komplikation(en)

Falls die Oligurie nicht behandelt wird, kann sich daraus ein akutes Nierenversagen entwickeln (Herold 2022).

Die schwerwiegende funktionelle Oligurie kann bis hin zum hypovolämischen Schock führen (Kasper 2015).

Therapie

Die Behandlung einer funktionellen Oligurie ist abhängig vom Schweregrad der Hypovolämie. In leichten Fällen reicht eine orale Flüssigkeitszufuhr i. d. R. aus. 

In schweren Fällen ist eine i. v. Flüssigkeitssubstitution mit isotonischer Kochsalzlösung (0,9 % NaCl) angezeigt. 

Patienten mit einer Hypernatriämie sollten, wenn ausschließlich ein Wasserverlust aufgetreten ist, stattdessen eine hypotone Lösung wie z. B. 5 % Dextrose, bei Wasser plus NaCl- Verlust eine hypotone Kochsalzlösung (½ bis ¼ normaler Kochsalzlösung) erhalten.

Bei metabolischer Azidose mit Verlust von Bikarbonat ist eine i. v. Substitution von Bikarbonat angezeigt (Kasper 2015).

Blutverlust: Patienten mit einer schweren Blutung, sollten Erythrozytenkonzentrate erhalten, wobei der Hämatokrit nicht über 35 % steigen sollte (Kasper 2015).

Urinausscheidung: Die Urinausscheidung empfiehlt sich in schweren Fällen stündlich zu überwachen (Haider 2021).

Diuretika: Sollte es unter der o. g. Flüssigkeitsgabe nicht zu einer Behebung der Oligurie kommen, ist zur exakten Beurteilung der Nierenfunktion und der weiteren Prognose der Furosemid- Stresstest (FST) angezeigt. Der FST zählt zu den neueren dynamischen Funktionsmakern (Kindgen- Milles 2020).

Dazu muss der Patient zunächst euvolämisch sein. Der Test selbst sollte unter ständiger Kontrolle der Herzfrequenz und des Blutdrucks erfolgen. 

Der Patient erhält eine Kurzinfusion mit 1 – 1,5 mg / kg KG Furosemid.

Kommt es anschließend zu einer Diurese von > 100 ml / h, deutet dies auf eine GFR von > 20 ml / min hin und macht eine Progression des akuten Nierenversagens unwahrscheinlich (Kindgen- Milles 2020). Die Therapie mit Diuretika ist in diesem Fall fortzusetzen (Haider 2021).

Falls die o. e. Diurese innerhalb der ersten 2 h p. i. nicht einsetzt, wird empfohlen, 100 – 200 mg Furosemid zu verabreichen. Sollte auch dies erfolglos bleiben, kann noch ein Thiaziddiuretikum versucht werden. Falls alle Versuche erfolglos bleiben, sollten Diuretika abgesetzt werden (Haider 2021).

 

Bei Patienten mit sekundärer renaler Oligurie konzentriert sich die Behandlung auf unterstützende Maßnahmen und – falls erforderlich – auf eine Nierenersatztherapie (Haider 2021).

Verlauf/Prognose

Eine funktionelle Oligurie verschwindet i. d. R. nach rechtzeitiger Wiederherstellung der Nierendurchblutung (Haider 2021). 

Falls der Patient auf einen Furosemid- Stresstest (s. „Therapie“) nicht anspricht, wird er in bis zu 75 % eine Nierenersatztherapie benötigen (Haider 2021). 

Eine deutliche schlechtere Prognose mit steigender Sterblichkeit findet sich bei einer Intensität der Oligurie < 0,5 ml / kg / h (Haider 2021).

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Bergmann H et al. (2013) Klinische Anästhesiologie und Intensivtherapie: Hämofiltration – Hämodialyse – Hämopherese. Springer Verlag Berlin / Heidelberg / New York / London / Paris / Tokyo / Hong Kong / Barcelona / Budapest 4
  2. Braun J et al. (2022) Klinikleitfaden Innere Medizin. Elsevier Urban und Fischer Verlag 398
  3. Egal M et al. (2016) Neutrophil Gelatinase- Associated Lipocalin as a Diagnostic Marker for 
  4. Acute Kidney Injury in Oliguric Critically Ill Patients: A Post-Hoc Analysis. Nephron (134) 81 - 88
  5. Gesenhues S et al. (2020) Praxisleitfaden Allgemeinmedizin. Elsevier Urban und Fischer Verlag 766, 775
  6. Guder W G et al. (1989) Deutsche Gesellschaft für Klinische Chemie Merck- Symposium: Pathobiochemie und Funktionsdiagnostik der Niere. Springer Verlag Berlin / Heidelberg / New York / London / Paris / Tokyo / Hong Kong / Barcelona / Budapest 128
  7. Haider M Z et al. (2021) Oliguria. StatPearls Publishing LLC. PMID: 32809573 Bookshelf ID: NBK560738
  8. Häußler, U., & Keller, F. (2006). Nierenerkrankungen. In: Facharztwissen Urologie. Springerverlag Berlin / Heidelberg 623 - 633
  9. Herold G et al. (2022) Innere Medizin. Herold Verlag 599, 637
  10. Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 289 – 293, 297 – 298
  11. Kindgen- milles D et al. (2020) Neue Nierenfunktionstests: Renal- funktionelle Reserve und Furosemidtest. Med Klin Intensivmed Notfmed 1 / 20
  12. Mohr L et al. (1968) Handbuch der Inneren Medizin. Achter Band: Nierenerkrankungen. Springer Verlag Berlin 944
  13. Scheurlen G et al. (2013) Differentialdiagnose in der Inneren Medizin. Springer Verlag Berlin / Heidelberg / New York / London / Paris / Tokyo 506
  14. Turner N et al. (2015) Oxford Textbook of Clinical Nephrology. Oxford University Press 1831

Weiterführende Artikel (2)

Diuretika; Furosemid;

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