Harnsäurenephropathie

Autor: Dr. med. S. Leah Schröder-Bergmann

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Zuletzt aktualisiert am: 10.04.2021

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Erstbeschreiber

Synonyme

  • Akute Harnsäurenephropathie: Harnsäureinfarkt ohne Nekrose; Teil des Tumorlysesyndroms;
  • Chronische Harnsäurenephropathie: Gichtniere; Gichtnephropathie; 

 

 

Erstbeschreiber

Im Jahre 1683 verfasste Thomas Sydenham (1624 – 1689), der selbst mehr als 30 Jahre an der Gicht litt, seine berühmt gewordene Abhandlung zur Gicht (Schuchart 2018).

 

 

Definition

Unter einer akuten Harnsäurenephropathie versteht man eine Präzipitation von Harnsäure bei massiven Zellverfall unterschiedlicher Genese (Keller 2010). Bei der chronischen Form liegt neben der Präzipitation von Harnsäure als Folge einer Hyperurikämie auch noch eine verminderte Fähigkeit, die Harnsäure auszuscheiden, vor (Schewe 2015).

Einteilung

Man differenziert zwischen einer akuten und einer chronischen Harnsäurenephropathie (Thomas 2006).

Vorkommen

Akute Harnsäurenephropathie:

Die akute Harnsäurenephropathie entwickelt sich erstmals physiologischerweise bei Neugeborenen am 1. - 3. Lebenstag (Thomas 2006). 

Sie kann ansonsten in jedem Lebensalter vorkommen.

 

Chronische Harnsäurenephropathie:

Die chronische Harnsäurenephropathie findet man heutzutage nur noch selten, da inzwischen die Behandlungsmöglichkeiten einer Hyperurikämie sehr gut sind (Tsvetkov 2020).

Am häufigsten tritt sie bei Patienten mit langjähriger Hyperurikämie und ausgeprägten Gichttophi auf (Kasper 2015).

Bei ca. 60 % der an Gicht erkrankten Patienten kommt es zu einer Nierenveränderung und von diesen in ca. 30 % zu einer typischen Harnsäurenephropathie. Im weiteren Verlauf tritt bei ca. 10 % eine progredienten Niereninsuffizienz auf (Thomas 2006).

Ätiologie

Akute Harnsäurenephropathie:

Die akute Harnsäurenephropathie beim Neugeborenen tritt durch massive Zerstörung kernhaltiger Erythrozyten auf (Thomas 2006). Sie ist physiologisch bedingt.

Durch einen raschen Zellzerfall findet man die akute Form gehäuft bei bestimmten Krankheitsbildern wie z. B.:

  • hämatologische Neoplasien
  • aggressive Lymphome (besonders oft beim lymphoblastischen Lymphom und beim Burkitt- Lymphom)
  • akute Leukämien

und seltener bei soliden Tumoren wie z. B.:

  • Keimzelltumoren
  • Mammakarzinom
  • Bronchialkarzinom

Ebenfalls selten beim:

  • Plasmozytom
  • indolentem Lymphom

(Schmoll 2006)

(Thomas 2006)

(Zöllner 1990)

 

Zusätzliche Risikofaktoren für eine akute Harnsäurenephropathie sind z. B.:

  • vorbestehende Niereninsuffizienz
  • Hypovolämie
  • Behandlung mit Thiaziddiuretika
  • Therapie mit nephrotoxischen Substanzen wie z. B.:
  • Aminoglykoside
  • Amphotericin B
  • Cyclosporin A
  • NSAR
  • Sulfonamide

(Thomas 2006)

 

Chronische Harnsäurenephropathie:

Die chronische Harnsäurenephropathie tritt heutzutage bei Patienten mit länger bestehender Hyperurikämie undausgeprägten Gichttophi auf (Kasper 2015). Möglicherweise bildet hierbei die Schädigung der Endothelzellen durch die Hyperurikämie einen Risikofaktor (Tsvetkov 2020).

 

 

Pathophysiologie

Die Ausscheidung von Harnsäure, dem Endprodukt des Purinstoffwechsels erfolgt hauptsächlich in der Niere (zu ca. zwei Dritteln) und teilweise im Darm (zu weniger als einem Drittel). (Herold 2021)

In den Glomeruli wird die Harnsäure zunächst filtriert und der größte Teil in den Tubuli reabsorbiert bzw. aktiv sezerniert (Schmoll 2006). Nur ca. 10 % der gefilterten Harnsäure wird über den Endharn ausgeschieden (Schmidt 2007). 

Normwerte der Harnsäureausscheidung:

  • Frauen < 4,5 mmol / d bzw. < 750 mg / d
  • Männer: < 4,7 mmol / d bzw. < 800 mg / d

(Kuhlmann 2015)

 

Akute Harnsäurenephropathie:

Durch eine zytostatische Tumor- Zellzerstörung und / oder einen raschen Zellumsatz bei Tumorleiden steigt die zu filtrierende Menge an Harnsäure in der Niere stark an, wobei sich besonders im distalen Tubulus eine hohe Konzentration von Harnsäure befindet. Sobald die Produktion und Exkretion die Löslichkeit im Urin übersteigen, kommt es im sauren Milieu der Tubuli, den renalen Sammelrohren und des Nierenmarks zu einer Präzipitation der Harnsäure, die letztlich die akute Harnsäurenephropathie auslöst (Schmoll 2006).

 

Chronische Harnsäurenephropathie:

Durch die Ansammlung von Harnsäurekristallen kommt es neben einer intrarenalen Obstruktion auch noch zu inflammatorischen Prozessen, die – hauptsächlich in den medullären und papillären Bereichen der Niere - eine fibrotische Veränderung hervorrufen. 

Zusätzlich bestehen bei Patienten mit einer Gichterkrankung häufig eine Lipidämie und eine arterielle Hypertonie, die wiederum ausgeprägte degenerative Veränderungen in den Nierenateriolen bewirken.

Die genauen Interaktionen zwischen der Hyperurikämie, der Hypertonie und dem Nierenversagen sind bislang aber nicht vollständig geklärt (Kasper 2015).

 

 

Klinisches Bild

Akute Harnsäurenephropathie:

Klinisch bildet sich ein eher uncharakteristisches Bild aus. Es können Symptome einer Urämie vorhanden sein wie z. B.:

Seltener sind:

(Schmoll 2006)

 

Chronischen Harnsäurenephropathie:

Bei der chronischen Harnsäurenephropathie stehen die Symptome einer Gicht im Vordergrund wie z. B.:

  • Podagra beim akuten Gichtanfall
  • Gichttophi
  • Uratsteine

(Risler 2008) 

 

 

Labor

Akute Harnsäurenephropathie:

Die Diagnose lässt sich durch Harnsäurekristalle im Urin bestätigen. 

Typisch für eine akute Harnsäurenephropathie ist ein Quotient von > 1 der Harnsäure zu Kreatinin im Urin. Ein Quotient < 1 spricht für eine andere Genese des Nierenversagens (Kasper 2015).

 

Chronische Harnsäurenephropathie:

  • die glomeruläre Filtrationsrate kann zu Beginn der sich entwickelnden Niereninsuffizienz fast normal sein
  • Proteinurie
  • die Fähigkeit, den Urin zu konzentrieren, nimmt ab

(Kasper 2015)

Histologie

Histologisch findet man in der betroffenen Niere Ablagerungen von Natriumurat. Die doppelbrechenden Nadeln sind im polarisierten Licht in den Lichtungen der Sammelkanäle und im Interstitium nachzuweisen. Durch die von ihnen hervorgerufene Fremdkörperreaktion kommt es zum Auftreten mehrkerniger Riesenzellen. Histologisch entspricht das Bild einem Tophus (Thomas 2006).

In den medullären und papillären Bereichen der Niere kommt es mitunter zu fibrotischen Veränderungen (Kasper 2015).

Differentialdiagnose

Akute Harnsäurenephropathie:

(Zöllner 1990)

Chronische Harnsäurenephropathie:

(Zöllner 1990)

Komplikation(en)

Chronische Harnsäurenephropathie:

(Kasper 2015)

Therapie allgemein

Akute Harnsäurenephropathie:

Onkologische Patienten mit Risikofaktoren (s. o. „Ätiologie“) sollten in der Initialphase einer Tumortherapie engmaschig sowohl laborchemisch als auch flüssigkeitsbilanziert überwacht werden (Schmoll 2006).

Als Allgemeinmaßnahmen empfehlen sich:

  • Hydratation, um ein Urinvolumen von ≥ 3 l / d zu erreichen

Medikamente, die die Absorption von Harnsäure hemmen, sollten unbedingt vermieden werden. Zu ihnen zählen z. B.:

  • Acetylsalicylsäure
  • Probenicid
  • Thiaziddiuretika

(Schmoll 2006)

 

Chronische Harnsäurenephropathie:

Diätetische Maßnahmen wie z. B. Vermeidung purinhaltiger Speisen (wie z. B. Innereien), Fleischextrakt (Gemüsebrühe statt Fleischbrühe verwenden), Schalen- und Krustentiere, Bohnen, Erbsen, Spargel, Spinat, Kaffe, Tee, Kakao etc. (Klein 2019).

Interne Therapie

Akute Harnsäurenephropathie:

Unter der Chemotherapie sollten die Patienten erhalten:

  • Allopurinol

Bereits 1 – 2 Tage vor Therapiebeginn sollte mit der Behandlung begonnen werden.

Dosierungsempfehlung: 2 x 300 mg p. o. / d 

Hierbei ist zu beachten, dass die Dosierung von 6- Mercaptopurin und Azathioprin bei gleichzeitiger Gabe von Allopurinol um ein Drittel bis ein Viertel gesenkt werden sollte.

(Schmoll 2006)

  • Alkalisierung des Urins

Die Alkalisierung des Urins führt zu einer besseren Löslichkeit der Harnsäure (Kuhlmann 2015).

Medikamentös kann dies durch Acetazolamid oder i. v. Gabe von Natriumbikarbonat erfolgen. Der Ziel- pH- Wert sollte zwischen 7 – 8 liegen (Schmoll 2006).

  • Rasburicase 

Das Medikament wurde im Jahre 2001 (Handelsname Fasturtec R ) eingeführt und wird – trotz fehlender Studienlage – in der Erstlinientherapie empfohlen (Kuhlmann 2015). Es wandelt Harnsäure in das besser lösliche Allantoin um. Bei Patienten mit den o. g. Risikofaktoren (s. „Ätiologie“) und Patienten mit einem hochagressiven chemotherapiesensiblen Tumor, sollten parallel mit Rasburicase behandelt werden. Die Therapiedauer ist abhängig vom laborchemischen und klinischen Verlauf (Schmoll 2006).

Dosierungsempfehlung:

Rasburicase 0,15 mg bis 0,2 mg / kg KG in 0,9 %iger NaCl- Lösung mit einem Gesamtvolumen von 50 ml 1 x / d i. v. (Schmoll 2006) oder in Kombination mit der o. g. Hydrierung i. v. (Kuhlmann 2015).

 

Chronische Harnsäurenephropathie:

Da Harnsäure bei sauren pH- Werten auskristallisiert und im alkalischen Milieu wieder in Lösung übergeht, kann man dieses therapeutisch nutzen (Seitz 2018).

  • Alkalisierung des Urins

Um den Urin zur Metaphylaxe auf einen pH zwischen 6,5 bis 6,8 anzuheben, können Alkalizitrate oder Natriumbikarbonat verwendet werden. Die dazu erforderliche Dosis ist individuell sehr unterschiedlich und sollte vom Patienten selbst durch mehrmalige tägliche Messungen ermittelt werden.

Die Auflösung von Harnsäuresteinen erfolgt medikamentös mit z. B. Kaliumcitrat. Die Dosierung ist auch hierbei individuell anzupassen, allerdings bis zu einer Alkalisierung des pH- Wertes auf 7,0 – 7,2 (Seitz 2018).

  • Allopurinol

Medikamentöse Senkung der Harnsäurespiegel im Blut und / oder im Urin durch Allopurinol. Dosierungsempfehlung: 100 mg - 300 mg / d (Seitz 2018).

Prognose

Akute Harnsäurenephropathie:

Bei unverzüglicher adäquater Therapie ist eine vollständige Rückbildung der Nierenschädigung möglich (Zöllner 1990).

 

Chronische Harnsäurenephropathie:

Die chronische Form der Harnsäurenephropathie ist bei entsprechender medikamentöser Behandlung i. d. R. nicht progressiv (Zöllner 1990). Durch Allopurinol scheint die Progredienz der Nephropathie sogar aufgehalten zu werden (Stefan 2007).

 

 

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Herold G et al. (2021) Innere Medizin. Herold Verlag 124, 705 - 708
  2. Kasper D L et al. (2015) Harrison‘s Principles of Internal Medicine. Mc Graw Hill Education 1795, 1862,
  3. Kasper D L et al. (2015) Harrisons Innere Medizin. Georg Thieme Verlag 2205, 2292
  4. Keller C K et al. (2010) Praxis der Nephrologie. Springer Verlag 155 – 156, 171 - 172
  5. Klein R (2019) 100 Fälle Allgemeinmedizin : Aus der Praxis. Elsevier Urban und Fischer Verlag 285
  6. Risler T et al. (2008) Facharzt Nephrologie. Elsevier Urban und Fischer Verlag 577
  7. Schewe S (2015) Gicht. In: Lehnert H et al. DGIM Innere Medizin. Springer Medizin Verlag 1 – 12 https://doi.org/10.1007/978-3-642-54676-1_419-1
  8. Schmidt R F et al. (2007) Physiologie des Menschen: mit Pathophysiologie. Springer Verlag 698
  9. Schmoll H J et al. (2006) Kompendium Internistische Onkologie: Standards in Diagnostik und Therapie. Springer Verlag 2215 – 2217
  10. Schuchart S (2018) Berühmte Entdecker von Krankheiten: Thomas Sydenham, Rebell am Krankenbett. Dtsch Arztebl 115 (12) 60
  11. Seitz C et al. (2018) S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis (AWMF Registernummer 043 – 025) 
  12. Stefan E G et al. (2007) Medizinische Therapie 2007 / 2008. Springer Verlag 491
  13. Thomas C et al. (2006) Histopathologie: Lehrbuch und Atlas zur Befunderhebung und Differentialdiagnostik. Schattauer Verlag 195 
  14. Tsvetkov D et al. (2020) Diagnostik und Therapie Innere Medizin: Chronische Harnsäurenephropathie. Herausgeber Harrison Innere Medizin e- Kapitel und Videos. https://eref.thieme.de/cockpits/reader/clHAM0001clInn/coEndoSW00054/4-18
  15. Zöllner N et al. (1990) Hyperurikämie, Gicht und andere Störungen des Purinhaushaltes. Springer Verlag 217 - 220
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