X-Chromosom-Inaktivierung

Zuletzt aktualisiert am: 22.07.2021

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Synonym(e)

Lyon-Effekt der X-Inaktivierung; Lyonisierung; X-Inaktivierung

Erstbeschreiber

Mary Frances Lyon, Genetikerin

Definition

Als  X-Chromosom-Inaktivierung, auch X-Inaktivierung genannt,  wird in der Humangenetik ein Prozess bezeichnet, bei dem ein X-Chromosom ganz oder weitgehend stillgelegt wird, so dass von diesem Chromosom keine Genprodukte mehr erstellt werden. Bereits 1949 wurde eine dichte Struktur im Zellkern von weiblichen somatischen Zellen entdeckt (Barr Körperchen), die 1960 als inaktiviertes X-Chromosom identifiziert wurde. Die Genetikerin Mary Frances Lyon stellte im darauffolgenden Jahr die Hypothese auf, dass in weiblichen Zellen eines der beiden X-Chromosomen dauerhaft inaktiviert wird, um zu verhindern, dass weibliche Zellen doppelt soviele X-gebundene Gene exprimieren wie männliche Zellen (Lyon Hypothese). Das X-Chromosom trägt über 1000 Gene und liegt bei Männern in nur einfacher Ausführung vor.

Allgemeine Information

Frauen tragen in jeder Zelle zwei X-Chromosomen und würden im Vergleich zu Männern somit die doppelte Gendosis aufweisen. Die zufällige Inaktivierung des entweder paternalen X-Chromosoms (Xp) oder maternalen X-Chromosoms (Xm) bei Frauen dient der Dosiskompensation von X-gebundene Genen zwischen beiden Geschlechtern, so dass weibliche Zellen die gleiche Gendosis aufweisen wie männliche Zellen mit nur einem X-Chromosom. Durch die zufällige Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen stellen Frauen ein Mosaik aus zwei Zellpopulationen dar, Zellen mit aktivem Xm oder aktivem Xp. Die X-Inaktivierung erfolgt in der frühen weiblichen Embryonalentwicklung und unterliegt einem sehr komplexen molekularen Mechanismus, der bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist. Für die X-Inaktivierung muss eine Zelle verschiedene Aufgaben erfüllen können:

  • Bestimmung der Anzahl der X-Chromosomen
  • Unterscheidung der X-Chromosomen
  • Auswahl des zu inaktivierenden X-Chromosoms
  • Prozess der Inaktivierung

Eine essentielle Komponente bei der X-Inaktivierung ist eine Region auf dem X-Chromosom, die als X inactivation center (Xic) bezeichnet wird. Experimentell konnte nachgewiesen werden, dass die X-Inaktivierung nur erfolgt, wenn in der Zelle zwei (oder mehr) Xic vorliegen. Im Xic liegt das Xist (X inactivation specific transcript)-Gen, das für eine nicht kodierende RNA kodiert (Xist-RNA). In der frühen weiblichen Embryonalentwicklung wird die Xist-RNA in den Zellen nur von einem der beiden X-Chromosomen exprimiert. Die Xist-RNA verbleibt im Zellkern und überzieht dort das Chromosom, von dem sie exprimiert wird, wodurch die Inaktivierung des gesamten Chromosoms induziert wird.

Die X-Inaktivierung ist ein Prozess, der in der Regel immer initiert wird, sobald zwei oder mehr X-Chromosomen in der Zelle vorhanden sind, mit dem Ziel, dass nur ein aktives X-Chromosom in der Zelle verbleibt. Daher zeigt sich auch bei Männern mit dem Genotyp XXY (Klinefelter Syndrom) die Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen, und bei Frauen mit dem Genotyp XXX (Triple-X-Syndrom= Super-Female-Syndrome) kann die Inaktivierung von zwei der insgesamt drei X-Chromosomen beobachtet werden. Etwa 15% der Gene auf dem inaktivierten X-Chromosom bleiben jedoch intakt . Daher zeigen sich bei diesen Syndromen trotz der X-Inaktivierung der überzähligen X-Chromosomen verschiedene Symptome, die auf die abweichende Dosis dieser Gene zurückgeführt werden können.

Klinisches Bild

In der Humangenetik spielt die X-Inaktivierung eine besondere Rolle bei der Ausprägung von X-chromosomal vererbten Erkrankungen. Bei X-gebunden rezessiven Erkrankungen kann folgendes beobachtet werden:

  • In der Regel sind nur Männer betroffen, da diese nur ein X-Chromosom tragen.
  • Bei einer Frau kann in sehr seltenen Fällen eine X-rezessive Erkrankung auftreten, wenn sie auf beiden X-Chromosomen ein mutiertes Allel geerbt hat oder wenn die X-Inaktivierung zugunsten des mutationstragenden X-Chromosoms verschoben ist.
  • Väter können die Erkrankung nicht an Söhne vererben. Alle Töchter sind heterozygote Trägerinnen (Konduktorinnen).
  • Nachkommen einer Konduktorin erben die Mutation mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%, Mädchen mit der Mutation sind damit wiederum Konduktorinnen, Jungen mit der Mutation erkranken.

Bei Trägerinnen einer X-gebunden rezessiven Erkrankung wird aufgrund der zufälligen X-Inaktivierung nur in ca. 50% der Zellen das mutierte rezessive Allel exprimiert. Die andere Hälfte der Zellen exprimiert das funktionelle Allel, wodurch häufig eine Kompensation des ererbten Defekts möglich ist und sich somit bei Frauen in der Regel phänotypisch keine oder eine mildere Symptomatik zeigt. Durch Zell-zu-Zell-Verbindungen oder über Endozytose werden Metabolite bzw. Enzyme zwischen Zellen ausgetauscht, wodurch der Defekt in den mutierten Zellen kompensiert wird. Diese Kompensation wird auch als metabolische Kooperation (metabolic cooperation) bezeichnet und kann bei verschiedenen Erkrankungen beobachtet werden, so beim Morbus Fabry (Defizienz der alpha-Galactosidase A), dem Morbus Hunter (Defekt der Iduronat-Sulfatase), dem Lesch-Nyhan Syndrom (Hypoxanthin-Phosphoribosyltransferase (HPRT) Defizienz).

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Galupa R et al. (2018) X-Chromosome Inactivation: A Crossroads Between Chromosome Architecture and Gene Regulation. Annu Rev Genet 52:535-566

Weiterführende Artikel (3)

Klinefelter-Syndrom; Morbus Fabry; Morbus Hunter;
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