13.03.2023

Selten Und Doch So Nah - Tumordispositionssyndrome

Am 5.12.schrieb ich Ihnen unter dem Newsletter-Titel
-Dermatologie In Zeiten des Umbruchs- folgendes: „Wir stehen vor einer Zeitenwende in der Medizin.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Am 5.12.schrieb ich Ihnen unter dem Newsletter-Titel
-Dermatologie In Zeiten des Umbruchs- folgendes: „Wir stehen vor einer Zeitenwende in der Medizin. Es waren die Verordnungen von kenntnisarmen Politikern, Inhabern von Rechnungsstellen; es waren wechselnde Vorschriften, Überlegungen gewinnorientierter Gremien, neidvoller Sozialkundler, betriebswirtschaftlich eingenommener Schlechtwettermacher und engstirniger Ausschüsse, die diese brenzlige Situation herbeigeführt haben. Jeder nachdenkliche Arzt kennt die Schwächen des Systems. Wir Ärzte wissen genau, wohin die Reise gehen wird, und tatsächlich wissen wir auch, was sich ändern muss“.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach

Am 6.12. also ein Tag später, trat der inzwischen politisch deutlich angeschlagene, quasi „per Plebiszit“ ins Amt beförderte Gesundheitsminister Karl Lauterbach, vor die Presse und kündigte eine „Revolution in der Krankenhauslandschaft“ an. Zurücknehmen will er die Fehler, die er selbst durch die rigorose Einführung der Fallpauschalen zu verantworten hat. Eine Revolution?
Wir staunen nicht schlecht über die gesundheitspolitischen Kehrtvolten des Herrn Lauterbauch, geschmückt mit den üblichen Kapriolen und Courbetten der Politik, werden sie mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgen um über „Verbesserungen“ der Situation zu berichten. Soviel ist heute schon klar, das Gefeilsche um Vorhaltekosten von Intensivstationen und Kinderkliniken hat schon lange begonnen. 
Aber liebe Kolleginnen und Kollegen, über allen zukünftigen Änderungen wird in dicken Lettern die Überschrift: „AMBULANT VOR STATIONÄR“ in Großbuchstaben zu lesen sein.

Diese seit Jahrzehnten bekannte, „nichtaufschiebare Notwendigkeit“ ist der Kern der eigentlichen jetzt eingeläuteten „Revolution“, unseres Gesundheitssystems, auch wenn Herr Lauterbach, der „schlauste Kopf der deutschen Gesundheitspolitik“ dies möglicherweise anders sieht und gemeint hat. Aber hierfür muss ein energischer Anreiz geschaffen werden. Nur, der Deutsche an sich, ist für Revolutionen nicht geschaffen, das kann man bei einer historischen Rückschau leicht erkennen. Aber nutzen Sie doch als niedergelassene Kollegen diese „Zeitenwende“ als eine einmalige Chance um  Systemveränderungen in der ambulanten Medizin durchzusetzen. Ohne Ihre Mithilfe wird Herr Lauterbach nichts bewegen können. Es ist Zeit die wenig akzeptablen Arbeitssituationen in den Praxen gründlich umzukrempeln. Treten Sie energisch dafür ein, und zwar jetzt! Plädieren Sie unmissverständlich dafür, dass Ihre tatsächlich erbrachten ärztlichen Leistungen, angemessen honoriert werden.

Eine scheinbar alltägliche Kasustik!
Die Krankengeschichte die ich Ihnen heute präsentiere, ist ein gutes Beispiel für die Leistungsfähigkeit der heutigen Praxismedizin. Die junge italienische Patientin konsultierte mich wegen eines, auf den ersten Blick, scheinbar simplen medizinischen Problems, das sich dann jedoch bei näherem Hinschauen und einer erweiterten Anamnese, als komplexe, nahezu kriminalistische Krankheitsproblematik erwies.
Zunächst war ich nicht sonderlich beunruhigt über die 3 kleinen, soliden Basalzellkarzinome am Thorax der 31-jährigen, ansonsten hautgesunden Patientin. Ungewöhnlich erschien mir auf den ersten Blick das noch "jugendliche" Alter und die Lokalisation der Basalzellkarzinome. Die Patientin berichtete, dass die Basalzellkarzinome im Bestrahlungsfeld eines 3 Jahre zuvor operativ entfernten und nachbestrahlten, prämenstruellen Mammakarzinoms lagen. Bisher war sie diesbezüglich klinisch rezidivfrei. Dermatologisch-therapeutisch konnten die superfiziellen Basalzellkarzinome durch 3 kleine, schnelle Exzsionen in Lokalanästhesie komplikationslos beseitigt werden. Die Heilung verlief problemlos.
Was ist nun an dieser Kasusitik nicht alltägliich? Sind es die Basalzellkarzinome als solche? Sicher nicht! Sind es das Alter der Patientin und die eher ungewöhnliche Lokalisation? Schon eher! Letztlich sensibilisierte mich die außergewöhnliche klinische Gesamtkonstellation:

das sehr frühe Erkrankungsalter der Basalzellkarzinome

die Multiplizität der Basalzellkarzinome

ihre Lokalisation in einem normalerweise nicht-UV-belasteten Areal

das Auftreten der Basalzellkarzinome in einem früheren Bestrahlungsfeld

das mit 28 Jahren außergewöhnlich frühe Auftreten eines Mammakarzinoms.

Die Nachfrage nach Tumorerkrankungen in der Familie ergab schließlich, dass ein Bruder ebenfalls in einem frühen Erwachsenenalter wegen eines Basalzellkarzinoms am Nasenrücken und weiterhin mit 28 Jahren wegen eines bronchoalveolären Lungenkarzinoms operiert wurde. Mit diesen umfassenderen Kenntnissen verfestigte sich die Annahme, dass es sich möglicherweise um ein hereditäresTumordispositionssyndrom handeln könnte.
Zunächst möchte ich erläutern, was hereditäre Tumordispositionssyndrome überhaupt sind, und welche Rolle sie in der Dermatologie spielen? Die Antwort: Es handelt sich um seltene autosomal-dominant erbliche „systemische“ Tumorerkrankungen, bei denen nicht selten diagnostisch wegweisende Hauterscheinungen auftreten, die auf die allgemeine Tumorneigung hinweisen.

Das onkologische Risiko bei diesen Tumorsyndromen ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung aufgrund von Mutationen in einem oder in mehreren Genen stark erhöht, manchmal bereits ab der Kindheit. Das ist klinisch-dermatologisch relevant, weil die assoziierten Hautveränderungen anderen Tumorkomplexen vorausgehen können und damit frühzeitig einen indikatorischen Hinweis liefern. Im Folgenden habe ich die bisher bekannten Tumordispositionssyndrome mit den ursächlichen Genmutationen und ihrer dermatologischen Komponente aufgelistet, die im Einzelnen, ausführlich in der „Altmeyers Enzyklopädie Medizin“ aufrufbar sind. 

                          Einteilung

Ataxia teleangiectatica (Mutationen im AT-Gen): Autosomal-rezessiv vererbtes, strahlensensitives Chromosomenbruchsyndrom mit zerebellärer Ataxie, Canities (vorzeitiges Ergrauen), Hirsutismus, seborrhoischem Ekzem, Teleangiektasien, ephelidenartige Hyperpigmentierungen sowie varioliformen Atrophien im Gesicht, verbunden mit einem T-zellulärem Immundefekt und einem erhöhten Neoplasie-Risiko.

Bap1 Tumor Prädispositions-Syndrom: Das BAP1-Tumorprädispositionssyndrom (Mutationen im BAP1-Gen) ist mit einem erhöhten Risiko für eine den „BAP1-inaktivierten melanozytären Tumor“ (früher als atypischer Spitz-Tumor bezeichnet), und für die folgenden Tumorarten (in absteigender Reihenfolge der Häufigkeit) verbunden: Aderhautmelanom (UM), malignes Mesotheliom (MMe), Melanom (der Haut) (CM), Nierenzellkarzinom (RCC), Basalzellkarzinom (BCC).

Bloom-Syndrom (Mutationen im gleichnamigen BLM-Gen/führt zu Störung der DNA-Helicase RECQL2): teleangiektatische Erytheme in lichtexponierten Arealen mit möglicher Blasenbildung in der Kindheit, Kleinwuchs, Café-au-lait-Flecken, evtl. Acanthosis nigricans. Gehäuft Neoplasien (20%), Infektanfälligkeit (T-zellulärer Immundefekt).

Bazex-Dupré-Christol-Syndrom (Mutationen im ACTRT1- Gen): Seltenes (aktuell sind weltweit etwa 20 Familien beschrieben) X-chromosomal-dominant vererbtes Syndrom mit angeborener generalisierter Hypotrichose/Alopezie, Atrophodermia vermiculata mit Betonung von Hand- und Fußrücken und multiplen Basalzellkarzinome. 

Rombo-Syndrom (Gendefekt bisher nicht analysiert): Bereits im Alter von 7-10 Jahren auftretende Akrozyanose und Keratosis follicularis; später Entwicklung zahlreicher Milien, Ausfall von Wimpern und Augenbrauen, Atrophodermia vermiculata, multipler Trichoepitheliome und Basalzellkarzinome.

Birt-Hogg-Dubé-Syndrom (Keimbahnmutation im FLCN-Gen): Hereditäres, sehr seltenes Syndrom, das durch multiple, vom bindegewebigen Anteil des Haarschafts ausgehende Neoplasien sowie Erkrankungen verschiedener extrakutaner Organe, v. a. Lungen, Nieren Kolon gekennzeichnet ist. 

Carney-Komplex (Mutationen im PRKAR1A-Gen): Der Carney-Komplex ist ein seltenes, autosomal-dominantes Syndrom mit multiplen endokrinen Neoplasien und Lentiginose.

Li-Fraumeni-Syndrom (Mutation im TP53-Gen): Seltenes Tumorprädispositionsyndrom mit einer Risikoerhöhung für verschiedene Tumore, die schon im Kindes- und jungen Erwachsenenalter auftreten. Dies sind: prämenopausales Mammakarzinom, versch. Sarkome, bronchoalveoläres Lungenkarzinom sowie Basalzellkarzinome und Melanome.

Chediak-Higashi-Syndrom (Mutation im LYST-Gen): Seltene, autosomal-rezessiv vererbte Variante des okulokutanen Albinoidismus mit leukozytärem Immundefekt, konsekutiver Infektanfälligkeit, Hepatosplenomegalie, generalisierter Lymphknotenvergrößerung und gestörter Melanogenese.  

PTEN-Hamartom-Tumor-Syndrome (unter diesem Terminus wird eine Gruppe klinisch heterogener Krankheiten mit autosomal dominanten PTEN-Mutationen in der Keimbahn und Beteiligung von Abkömmlingen aller 3 Keimblätter, die sich in Form von Hamartomen, Überwuchs und benignen sowie auch malignen Neoplasien manifestiert. Dermatologisch finden sich  Café-au-lait-Flecken, Streifenförmige epidermale Naevi, Tricholemmome, orale Papillomatose oder kapilläre Malformationen

Dyskeratosis congenita (Mutationen in den Genen TERT und DKC1) mit vorzeitiger Alterung, die neben schweren systemischen Beteiligungen (neurologische, gastrointestinale, dentale, ophthalmologische, pulmologische und skelettale Veränderungen) durch die Trias aus netzförmiger Hyperpigmentierung und Rötung, Teleangiektasien,, Onychodystrophie und Leukoplakien gekennzeichnet ist.  

Fanconi-Anämie (Mutationen im FNACA-Gen): Chronisch progrediente Anämie (meist hyperchrom-makrozytär) sowie erhöhte Infektanfälligkeit. Außerdem Minderwuchs u.a. Missbildungen innerer Organe. Hautveränderungen: Hyperpigmentierungen der Intertrigines, auch an Hals- und Gesicht. Seltener sind typische Café-au-lait-Flecken.

Naevoides Basalzellkarzinom-Syndrom (Gorlin-Goltz-Syndrom/Mutationen im PTCH1-Gen): autosomal-dominant vererbte Multisystemerkrankung mit zahlreichen Basalzellkarzinomen im frühen Lebensalter sowie multiplen weiteren Fehlbildungen (Skelettsystem, ZNS, Urogenitalsystem, Herzen).  

Gardner-Syndrom (Mutationen im APC-Gen). Das Gardner-Syndrom ist eine Variante der familiären adenomatösen Polyposis (multiple kolorektale Polypen sowie durch verschiedene Arten von sonstigen kutanen und extrakutanen Tumoren). Die Betroffenen haben ein nahezu 100%iges Risiko an einem Kolonkarzinom zu erkranken. Dermatologisch auffällig sind Fibrome, Epidermalzysten, Pilomatrixome

Palmoplantarkeratose mit Ösophaguskarzinom und Mutation in RHBDF2 (Howel-Evans-Syndrom):  Die syndromale Palmoplantarkeratose ist ein autosomal-dominantes paraneoplastisches Syndrom mit oralen Leukoplakien. Es besteht ein 95%iges Lebenszeitrisio für Ösophaguskarzinome.  

Leiomyomatose hereditäre und Nierenzellkarzinom (Mutationen im FH-Gen/Fumarathydratase-Gen): Das Leitsymptom der Genodermatose sind kutane, meist  multiple, gruppierte, auch streifenförmig angeordnete, Leiomyome (bei etwa 75% der Patienten). Bei fast allen betroffenen Frauen treten Leiomyome des Uterus auf. Bei etwa 15% der betroffenen Patienten werden Nierenzellkarzinome diagnostiziert.

Multiple endokrine Neoplasien Typ 1 (Mutationen im MEN1-Gen): Zu den multiplen endokrinen Neoplasien gehörendes Krankheitsbild mit Kombination peptischer Ulzera, neoplastischen Veränderungen des endokrinen Pankreas, der Nebenschilddrüse, des Hypophysenvorderlappens und evtl. der Schilddrüse.

Multiple endokrine NeoplasienTyp 2A (Mutationen im RET-Onkogen). Zu den multiplen endokrinen Neoplasien gehörendes, autosomal-dominant vererbtes Krankheitsbild mit Kombination von Phäochromozytom (evtl. bilateral), medullärem Schilddrüsenkarzinom, und evtl. Nebenschilddrüsenadenom gekennzeichnet ist. Häufige Assoziaton mit Lichen amyloidosus.  

Multiple endokrine Neoplasien Typ 3 (Mutationen im RET-Onkogen): Kombination  mit konjunktivalen Neuromen, Zungen- und Lippenneuromen, Phäochromozytom, Ganglioneuromatose des Aerodigestivtrakts, muskuloskelettalen und ophthalmologischen Anomalien. Ursächlich liegen Mutationen des RET-Onkogens zugrunde, einem für eine Transmembran-Tyrosinkinase kodierenden Gen, das auf dem Chromosom 10q11.2 lokalisiert ist.

Muir-Torre-Syndrom (Mutationen in den Genen MLH1, MSH2 und MSH6) Seltenes, familiär und sporadisch auftretendes Tumorsyndrom. Multiple benigne und maligne Hauttumoren (Talgdrüsenneoplasien, Basalzellkarzinome, Keratoakanthome) und Karzinome innerer Organe v.a. Kolorektalkarzinome.

Neurofibromatose Typ 1 (Neurofibromatose periphere/Mutation im Genlocus 17q11.2 = NF1-Genlokus) und Neurofibromatose Typ 2 (Mutationen im NF2 Gen). Dermatologisch relevant sind neben Neurofibromen die frühzeitig auftretenden Café-au-lait Flecken werden etwa bei 50%, Neurofibrome bei etwa 20% der Fälle. Autosomal-dominant vererbter Defekt des NF2 Gens (Neurofibromatose 2 Gen).  

Peutz-Jeghers-Syndrom (Mutationen im Peutz-Jeghers-Syndrom-Gen -STK11/LKB1): Seltenes polytopes Tumorsyndrom mit einer monitorischen Lentiginose der Lippen, Nase und der bukkalen Mukosa sowie intestinalen hamartösen Polypen und Karzinomen die sich v.a. im Dünndarm manifestieren.

Rothmund-Thomson-Syndrom (Mutation im RECQL4-Gen): Zu den RASopathien zugehöriges Krankheitsbild mit Poikilodermie, Skelettfehlbildungen, Wachstumsretardierung, Nageldystrophie, Hypotrichosen. Berichtet wurde über eine Vielzahl gutartiger und bösartiger hämatologischer Anomalien. Häufig tritt Photosensitivität hinzu mit spinozellulären Karzinomen und Basalzellkarzinomen. 50% der Patienten weisen bereits in der Kindheit eine Kataraktbildung aus.

Baller-Gerold-Syndrom (Mutation im RECQL4-Gen): seltenes Fehlbildungssyndrom mit Poikilodermie, vorzeitiger Kraniosynostose, Anomalien der Arm- und Handknochen, Hypertelorismus, Mikrostomie und eine sattelförmige dysplastische Nase. Zu erwarten ist ein gehäuftes Auftreten von spinozellulären Karzinomen wie auch Basalzellkarzinomen.

Tuberöse Sklerose (Mutationen der Gene TSC1 und TSC2/Tuberous Sclerosis Gen 1+2). die zu Störungen der Proteine Hamartin (TSC1) bzw. Tuberin (TSC2) führen. Beide Proteine führen zu einer Inhibition von mTOR und somit zur Tumorsuppression. Durch die Mutation verursachte Dysfunktion des Signalweges kommt es zu erhöhter Zellproliferation und Ausbildung von Geschwülsten (faziale „Akne-typisch" verteilte Angiofibrome (traditionelle dermatologische Bezeichnung: Adenoma sebaceum).  

Xeroderma pigmentosum: Autosomal-rezessiv vererbte Störung des Nukleotid-Exzisionsreparatursystems mit Mutationen in verschiedenen Genen. Die einzelnen Genabschnitte kodieren Reparaturproteine, die an verschiedenen Teilschritten des Nukleotidexzisionsreparatursystems beteiligt sind. Das Risiko, maligne Hauttumoren zu entwickeln, ist um 1000fach erhöht! Weiterhin haben XB-Patienten ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung interner Neoplasien (ZNS-Tumore; Sarkome, Leukämien, Lungenkarzinome) .

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
hereditäre Tumorerkrankungen treten in allen medizinischen Fachgebieten auf. Sie machen etwa 5% aller Krebserkrankungen aus. Möglicherweise werden Sie denken, dass die einzelnen Syndrome derart selten sind, dass sich die Beschäftigung mit solchen „Kolibris“ nicht lohnt. Ich behaupte, dass das Gegenteil der Fall ist. Nichts ist lehrreicher, als den Hintergrund solcher  Fehlentwicklungen zu analysieren, um zu verstehen, warum ein systemischer Defekt, wie eine bestimmte Keimbahnmutation, sich in der beschriebenen Weise klinisch auswirkt. Außerdem ist es wichtig diese Patienten frühzeitig zu erfassen, da sie– anders als Patienten mit sporadischen Krebserkrankungen – einer speziellen, langfristigen und vorsorglichen Betreuung bedürfen. Im Übrigen wird jeder Arzt im Laufe seiner Tätigkeit auf Patienten mit derartigen Gendefekten treffen. Ich persönlich kann mich sehr genau an eine Reihe von Patienten erinnern.

Zur Ätiopathogenese: Bisher sind, wie zuvor aufgelistet etwas mehr als 20 monogene Tumordispositionssyndrome genetisch charakterisiert worden. Die Zukunft wird noch weitere Syndrome zu Tage fördern, dessen bin ich mir sicher. Es ist bemerkenswert, dass die meisten bekannten hereditären Tumorsyndrome einem autosomal-dominanten Erbgang folgen, bei dem erstgradig Verwandte (Eltern, Kinder und Geschwister) eines Betroffenen ein Risiko von 50 Prozent haben, ebenfalls die ursächliche Mutation zu tragen. Dies ist für die onkologische Vorsorge ggf. für Präventivmaßnahmen von großer Bedeutung.
Das erhöhte Tumorrisiko ist meist durch eine Mutation in einem einzelnen Gen (monogen) bedingt. Meist liegen „Keimbahnmutationen“ vor, die über Ei- oder Samenzelle in die Zygote gelangt sind. Dies hat zur Folge, dass die Mutation, im Gegensatz zu einer somatischen Mutation, in jeder Körperzelle des betreffenden Menschen vorhanden ist, also auch in den zellulären Elementen des Blutes. Damit sind molekulargenetische Untersuchungen aus einer einfachen EDTA-Blutprobe möglich. Letztlich wird die genetische Disposition für ein erhöhtes Tumorrisiko vererbt, wobei es sich um klassische, genetisch bedingte Krankheitsbilder handelt, die den Mendel-Gesetzen der Vererbung (dominant, rezessiv) folgen. Insofern wird auch der Begriff „Tumordispositionssyndrome „ (TDS) für diese Erkrankungsgruppe zunehmend genutzt, so auch in der „Altmeyers Enzyklopädie Medizin“. 
Zurück zur Ätiopathogenese. Jetzt wird die Deutung spannend, denn es handelt sich bei diesen hereditären Tumorsyndromen um Mutationen, die die Tumorsuppresorgene und nicht die Onkogene betreffen. Mit anderen Worten, die betreffenden Gene üben in der Regel eine Funktion bei der Kontrolle des Zellzyklus oder bei der Reparatur von DNA-Schäden aus. Die Genmutation selbst führt zu funktionell gestörten Genprodukten, die ihre physiologischen Funktionen, nämlich die Kontrolle des Zellwachstums nicht mehr ausüben können. Die Folge ist bei bestimmten Voraussetzungen, ein ungebremstes Zellwachstum. Eine der Voraussetzungen ist die „Loss of Heterozygosity“. Hier die dazugehörige Erklärung: Anlageträger sind in der Regel heterozygot. Sie bleiben symptomfrei. Warum? Das noch intakte Allel kompensiert den Mutationsfehler. Nur wenn zufällig das zweite, bisher intakte Allel durch eine zusätzliche Mutation ("second hit") inaktiviert wird (= Loss of Heterozygosity) wird der genetische Schaden klinisch evident. Loss of Heterozygosity führt dann bei Tumorsuppressor-Genen zur Entstehung eines malignen Zellklons. Naturgemäß entstehen derartige „Seccond-Hit-Tumoren“ an Örtlichkeiten, die gehäuft onkogenen Irritationen ausgesetzt sind, so an Lunge, Darm und vor allem an der Haut. Natürlich können auch Spontanmutationen zum „Loss of Heterozygosity“ und damit zu einem unkontrollierten klonalen Zellwachstum führen. Letztlich resultiert aus dieser labilen genetischen Disposition ein hohes Risiko, im Laufe des Lebens an einem Tumor zu erkranken.

Multiple Basalzellkarzinome als Hinweise auf ein zugrundeliegendes Tumordispositionssyndrom mit UV-induziertem "Second-Hit". 

Die Tumordispositionssyndrome spielen in der Haut, wegen der hier allgemeinen hohen somatischen Tumorquote z.B. durch onkogene UV-Strahlung, eine besondere Rolle. So kann es bereits im Jugend- oder sogar im Kindesalter zu UV-induzierten, epithelialen oder melanozytären Hautgeschwülsten kommen.
Nun zu dem technischen Teil der Diagnostik: Für einen DNA-Reparaturdefekt stellt die Untersuchung des Tumorgewebes, den ersten diagnostischen Schritt dar. Hierzu stehen zwei Verfahren zur Verfügung (immunhistochemische Färbung und Untersuchung auf Mikrosatelliten-Instabilität). Bei auffälligem Tumorbefund ist eine Veränderung in einem der verdächtigten Gene wahrscheinlich, sodass eine Mutationssuche in Leukozyten-DNA einer EDTA-Blutprobe empfehlenswert ist. Für die molekulargenetische Untersuchung werden 5 ml EDTA-Blut oder 2-5µg DNA benötigt. Das Blut oder die DNA kann mit der normalen Post versendet werden. Im vorliegenden Fall konnte der Gendefekt aus einer EDTA-Blutprobe analysiert werden.
Die Diagnose bei der 31-jährigen Patientin lautete  „Li-Fraumeni-Syndrom (Mutation im TP53-Gen), ein seltenes Tumorprädispositionssyndrom mit einer Risikoerhöhung für verschiedene Tumore, die schon im Kindes- und jungen Erwachsenenalter auftreten. Das Tumorspektrum dieses seltenen Syndroms bezieht das prämenopausale Mammakarzinom, versch. Sarkome, das bronchoalveoläre Lungenkarzinom sowie Basalzellkarzinome und Melanome mit ein.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
das Erfassen von Tumordispositionssyndromen ist dann relativ unkompliziert, wenn in der Anamnese Hinweise auf erbliche Tumorsyndrome vorliegen. Weiterhin ist dieser Verdacht zu äußern, wenn mehrere maligne epitheliale Tumoren bei einem Patienten auftreten, sei es synchron oder sequenziell; ebenso bei Basalzellkarzinomen in nicht-UV-belastetem Hautarealen sowie bei  ungewöhnlich frühem Erkrankungsalter. Die Verdachtsdiagnose 
kann somit auch im täglichen Routinebetrieb leicht gestellt werden. Modernste Methoden der Hochdurchsatz-Sequenzierung (Next-Generation-Sequencing) ermöglichen Ihnen dann den relativ einfachen (EDTA-Blutprobe) Zugang zu einer „spezifischen Diagnostik“.  
Bei der 31 jährigen Patienten ließ das frühzeitige Auftreten eines Mammakarzinoms, bei bekanntem broncholaveolärem Karzinom und einem Basalzellkarzinom am Nasenrücken des damals 28 Jahre alten Bruders, auf ein familiäres Tumordispositionssysndrom schließen. Das Auftreten mehrerer Basalzellkarzinome im Bestrahlungsfeld des Mammakarzinoms war indikatorisch für einen „Second Hit“ mit einem Loss of Heterozygosity durch die Röntgenstrahlen. Die Erkrankungsgruppe könnte somit paradigmatisch für ein  erfolgreiches Konzept der präventiven Onkologie und personalisierten Medizin stehen.

Zum Schluss noch ein praktischer Hinweis: sollte in Ihrem Klientel ein Patient mit einem oder mehreren ungewöhnlich frühzeitig sich entwickelnden Basalzellkarzinom auftauchen, so können Sie eine genetische Untersuchung veranlassen, die Mutationen in folgenden Genen erfassen:
 

AT-Gen; BAP1-Gen; ACTRT1-Gen; FLCN-Gen; PRKAR1A-Gen; TP53-Gen; LYST-Gen; PTEN-Mutationen; TER-Gen/DKC1-Gen; PTCH1-Gen; APC-Gen; RHBDF2-Gen; Fumarathydratase-Gen; MEN1-Gen; RET-Onkogen; MLH1-/MH2-/MH6-Gen; STK11-/LKB1-Gen; RECQL4-Gen; TSC1-/TSC2-Gen

Ihnen allen, wünsche ich heute schon, ein friedliches Weihnachtsfest aus einem zeitweise noch recht sonnigen Oberitalien,
verbunden mit der Hoffnung, dass der Friede in Europa wieder einkehrten möge
Ihr Peter Altmeyer

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