13.03.2023

Lichen Ruber, Lichen Planus Oder Doch Lichen Ruber Planus?

Erasmus William James Wilson war zu seiner Zeit ein anerkannter englischer Dermatologe. Er war klug und weitsichtig, gründete das "Journal of Cutaneous Medicine" und betätigte sich einige Jahre als Mitherausgeber der berühmten Zeitschrift "The Lancet".

Erasmus William James Wilson war zu seiner Zeit ein anerkannter englischer Dermatologe. Er war klug und weitsichtig, gründete das "Journal of Cutaneous Medicine" und betätigte sich einige Jahre als Mitherausgeber der berühmten Zeitschrift "The Lancet". Weniger weitsichtig waren allerdings seine Erkenntnisse zu anderen modernen Errungenschaften, dokumentiert durch seine 1878 getätigte Aussage: "Mit der Weltausstellung von Paris wird auch die Geschichte des elektrischen Lichts enden, und man wird nichts mehr davon hören". Wir alle wissen: Hier irrte Wilson gewaltig.

Erasmus William James Wilson, englischer Dermatologe. Abbildung um 1860

Wilson irrte nicht mit der Beschreibung des Lichen ruber im Jahre 1866, dem er den Namen Lichen planus verpasste. Mit dieser Namensgebung setzte wieder einmal das dermatologische Gezänke um eine Krankheitsbenennung ein, das bis heute andauert, denn ursprünglich war dieses Krankheitsbild schon 1862 von dem Nestor der Wiener Dermatologie Ferdinand v. Hebra als „Lichen ruber“ oder die „Rothe Schwindflechte“ beschrieben worden.

Ferdinand v. Hebra und Moriz Kaposi, in Rudolf Virchow, Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie zweite Auflage S. 388

Zugegebenermaßen ist dieser Lichen nicht immer rot, schon gar nicht in dunkler Haut. Hier wird das Rot des Lichen ruber durch den dunklen Grundton der Haut überdeckt, je dunkler die Haut, umso weniger dominiert der Farbton Rot. Aber das ist eine allgemeine Binsenweisheit. Auch ist dieser Lichen nicht immer plan, weder der follikuläre noch der verruköse Lichen ruber haben eine plane Oberfläche. Somit trifft weder das eine noch das andere zu. Nun beschreiben die wenigsten Namen und Fachbezeichnungen präzise ein Krankheitsgeschehen, denken Sie  an die Naevuszelle, die nichts anderes ist als ein dermal abgelegter Melanozyt. Denken Sie an die Mycosis fungoides, die herzlich wenig mit einem Pilz zu tun hat oder an die Dyshidrose bzw. die dyshidrotische Dermatitis, deren historisches Missverständnis über „dysfunktionelle Schweißdrüsen“ wir geduldig ertragen, selbst dann noch, wenn dieses Missnomen durch den kaum zu vermittelnden Begriff „dyshidrosiform“ noch getoppt wird. Aber dazu ein anderes Mal.
Also bleiben wir doch mit ruhigem Blut beim Lichen ruber und ehren damit zugleich den wirklichen Erstbeschreiber dieser Autoimmunerkrankung, Ferdinand von Hebra, den Schwiegervater des allseits bekannten Moriz Kaposi. Lexikalisch muss man sich bei der „Rothen Schwindflechte“ sowieso für das eine oder das andere entscheiden. In der Altmeyers Enzyklopädie wird die Erkrankung aus den zuvor genannten Gründen unter der Bezeichnung „Lichen ruber“ geführt.
Ich gestehe an dieser Stelle ungern, dass ich mich mit Dermatosen in dunkler Haut außerordentlich schwertue. Einen gewissen Trost empfinde ich dadurch, dass ich mit diesem Bekenntnis wahrscheinlich nicht alleine dastehen. Wer sich dermatologische Kenntnisse in heller Haut aneignete, hat eine feine optische Sensorik für Rotnuancierungen entwickelt. Diese kann man in dunkler Haut getrost ad acta legen. Hier fehlen die fein changierenden Rotabstufungen der dermatologischen Inflammationen; die Lilafärbung der Dermatomyositis, das Sattrote des Erysipels, das zarte Rosé der Pityriasis rosea. Es fehlen die unterschiedlichen Rottöne des „Naevus flammeus“, die vom hauchzarten Rot beim Kleinkind bis hin zum tiefen Blaurot des reifen, vaskulären Hamartoms reichen. Das ganze Farbenspiel ist „à fonds perdue“. Nur führt das Wehklagen darüber nicht weiter, denn mit den ansteigenden Zahlen für Dermatosen in dunkler Haut schlagen wir in Europa nolens volens ein weiteres, für viele ein neues Kapitel dermatologischer Diagnostik auf. Packen wir es an, indem wir so gut wie möglich unsere Sinne schärfen, um die Morphologie der Dermatosen in dunkler Haut, auch ohne deren für uns gewohntes Farbenspiel, zu erkunden.

Der klassische Lichen ruber mit Befall von Felder- und Leistenhaut.

Lichen ruber in dunkler Haut. Fehlender Rotton der Effloreszenzen. Stattdessen ein grau-braunes Kolorit.

In der älteren Literatur (s. O.Gans Histologie der Hautkrankheiten 1925 S.291) wird dem „Lichen ruber planus“ (man achte auf den diplomatischen Diskurs von Oscar Gans, der Hebra´s „Lichen ruber“  mit Wilson`s „Lichen planus“ zum „Lichen ruber planus“ zusammenführte) als häufigste klassische Form der Lichen ruber acuminatus als Follikel-gebundene, das Hautniveau kegelförmig überragende Form gegenübergestellt. Auf die „acuminatus-Bezeichnung“ können wir heute komplett verzichten. Der Lichen acuminatus wird unter der Bezeichnung „Lichen ruber follicularis“ subsumiert.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein paar Sätze über den ominösen „Lichen planopilaris“ verlieren. Auch diesen Begriff umweht eine gewisse Polyphonie, ein Geschnatter um nichts. Die Mehrzahl der Autoren synomymieren diesen Begriff mit dem „Lichen ruber follicularis“ (s. L:Cerroni  Histopathologie der Haut, 2. Auflage S.132). Dieser Auffassung sind wir aus Gründen der Katharsis, als überzeugte Vertreter klarer Nomenklaturen in der Enyzklopädie Medizin gerne gefolgt.
Andere jedoch wollen den Lichen planopilaris ins nomenklatorische Unglück stoßen, und belegen den Alopezievorgang am Kapillitium beim  sog. „Keratosis pilaris Syndrom“ mit diesem Begriff. Die sog. „frontale fibrosierende Alopezie“ von Kossard, die irrigerweise auch als „postmenopausal“ beschrieben wird, gehört zu diesem Krankheitskomplex, der als jahrzehntelange, chronisch schleichend atrophisierende Keratose des Terminalhaares auftritt. Die follikuläre Inflammation sistiert erst mit der kompletten Zerstörung des Follikels (narbiger Verlust des Haares). Mein Vorschlag: Verzicht auf die Begrifflichkeit „Lichen planopilaris“, solange wir selber mit uns nicht im Reinen sind, wie er einzuordnen ist. Ein „Hin und Her“ ist jedenfalls keine Lösung.

Keratosis pilaris Syndrom (kein Lichen ruber follicularis) mit Follikelkeratosen und Alopezie.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
diese „Ausfallschritte“ waren notwendig, um gedanklich zum eigentlichen Thema des heutigen Newsletters, dem autoimmunologischen Lichen ruber, vorzudringen. Diese Krankheit verfügt nicht über dieselbe Lobby wie die Psoriasis, ist jedoch ebenso faszinierend, was Klinik und Pathogenese betrifft. Nur findet der wissenschaftliche Diskurs um diese Krankheit auf einem deutlich geringeren Level statt.
Beim Lichen ruber handelt es sich um eine, ätiologisch nach wie vor ungeklärte, nicht kontagiöse, subakut  chronisch verlaufende, ausgeprägt juckende, selbstlimitierte (Erkrankungsdauer zwischen 1 Monat und 10 Jahren), inflammatorische Erkrankung der Haut-  und/oder der Schleimhäute mit typischer klinischer (wie poliert glänzende Papeln) und histologischer Morphe (lichenoide Inflammation) und einem charakteristischem, häufig beugeseitig betontem Verteilungsmuster.

Bei dieser Definition setze ich allerdings ein kleines Stopzeichen. Der Lichen ruber befällt bei weitem nicht alle Schleimhäute, sondern nur verhornende und nicht verhornende Plattenepithelien, so beispielsweise nur den Ösophagus, nicht jedoch die Schleimhäute des Magen-Darmtraktes. Auch das mehrschichtige Deckgewebe der ableitenden Harnwege, das Urothel, bleibt Lichen-ruber-frei.
Allen Lichen- ruber-Varianten ist feingeweblich eine charakteristische "lichenoide Gewebereaktion" gemein. Diese ist jedoch nicht Lichen-ruber-spezifisch. Sie wird in Variationen auch bei anderen, ätiologisch durchaus unterschiedlichen, inflammatorischen Hautprozessen beobachtet, so z.B. bei lichenoiden Arzneimittelreaktionen, bei einer "Graft-versus-Host Reaktion", beim initialen Lichen sclerosus, beim Erythema dyschromicum perstans oder auch bei aktinischen Keratosen, um einige zu nennen
Epidemiologie: Die Prävalenz des Lichen ruber liegt je nach Population zwischen  0,6%-1,2% der (erwachsenen) Bevölkerung. Bis zu 25% der Pat. haben einen isolierten Lichen planus der Schleimhaut (s.u. Lichen planus mucosae).
Manifestation: Bevorzugt bei Erwachsenen vom 3. bis 6. Lebensjahrzehnt auftretend, selten bei Kindern (etwa 1-4% der Fälle). Keine ethnische Prädisposition. Frauen scheinen etwas häufiger als Männer zu erkranken (Schilling et al. 2018).
Ätiologie und Pathogenese: Auch 150 Jahre nach der Erstbeschreibung wird um die Ätiologie und Pathogenese des Lichen planus (LP) gerungen. Postuliert wird ein durch verschiedene Reize aktivierbares, Plattenepithel-spezifisches Autoantigen. Dafür spricht auch die Initiierung der lichenoiden Inflammation durch mechanische Triggerung. Signifikante Beziehungen zu einem bestimmten HLA-Phänotyp sind nicht nachweisbar.
Es bestehen wenig scharf umrissene Assoziationen zu Autoimmunerkrankungen, zu viralen Infekten, zu Medikamenten (s. Lichen planus e medicatione) sowie zu mechanischen Triggerfaktoren (Kratzen, Reiben, etc. kann zur Isomorphie führen, dem Köbner-Phänomen, was diese Erkrankung u.a. mit der Psoriasis gemein hat). Familiarität des Lichen planus ist bekannt, wenn auch sehr selten. Auch kann der Lichen ruber als kutane Mosaikdermatose (Lichen striatus) in Erscheinung treten, was bei dieser Konstellation für eine somatische Mutation eines bisher unbekannten Gens spricht. 
 

Die nachfolgende Klassifikation richtet sich nach dem Verteilungsmuster des Lichen ruber:

Lichen ruber exanthematicus (generalisierter Lichen ruber)

Lokalisierter Lichen ruber

Erythrodermischer Lichen ruber

Lichen planus linearis (Lichen ruber striatus) und Blaschkoider Lichen ruber (als kutane Mosaikdermatose)

Zosteriformer Lichen ruber

Inverser Lichen  ruber

Lichen ruber mucosae

Lichen ruber genitalis (Genitaler Lichen ruber; s.a. Lichen ruber vulvae)

Lichen ruber der Nägel

Klassifikation nach klinischem Erscheinungsbild:

Lichen ruber klassischer Typ

Lichen ruber actinicus

Lichen ruber anularis

Lichen ruber verrucosus

Lichen ruber follicularis

Graham-Little-Syndrom

Lichen ruber hypertrophicus

Lichen ruber atrophicans

Lichen ruber erosivus (erosiver Lichen ruber)

Lichen ruber pigmentosus

Lichen ruber bullosus /pemphigoides

Invisibler Lichen ruber (pruritisch ohne eindeutige klinische Zeichen des Lichen ruber; ehemals Lichen discretus).

Overlap Syndrome:

Lichen ruber bullosus/pemphigoides/bullöses Pemphigoid (?)

Lichen ruber erythematosus/systemischer Lupus erythematodes

Lichenoide Gewebereaktion (Interface-Dermatitis) des Lichen ruber mit dichten bandförmigen, subepithelialen Infiltrat, Epitheliotropie, vakuoliger Degeneration basaler Keratinozyten, Orthohyperkeratose

Die Bedeutung der Interface-Dermatitis: Der Pathogenese des Lichen ruber kann man sich gedanklich über sein histologisches Substrat nähern. Diesem liegt die „lichenoide, dermatitische Gewebereaktion“ zugrunde, die auch als „Interface-Dermatitis“ bezeichnet wird. Ihre morphologische Analogie führte zur Hypothese, dass beim Lichen ruber eine Autoimmunreaktion gegen (bisher noch nicht näher definierte) Epitope basaler Keratinozyten vorliegt, die durch virale, medikamentöse oder traumatische Induktion induziert wird. Auffällig ist in frühen Läsionen des Lichen ruber eine deutliche Vermehrung antigenpräsentierender Zellen (APZ). Im Wesentlichen sind es Langerhans-Zellen. Die APZs werden möglicherweise durch die Keratinozyten selbst, über ihre fehlerhafte Zytokinproduktion angelockt. Jedenfalls scheinen die antigenpräsentierenden Zellen autoreagible T-Zellen zu aktiveren, die weitere proinflammatorische Zytokine produzieren, wobei das Th1-Zytokin Interferon-gamma eine Schlüsselrolle spielt.
Unstrittig ist, dass die apoptotische Zerstörung der basalen Keratinozyten die gemeinsame Endstrecke der inflammatorischen Lichen-ruber-Reaktion darstellt. Als weitere Auslöser werden Liganden-Rezeptor-abhängige Fehlregulationen (TNF-alpha/TNFR1 = TNF-alpha-Rezeptor) diskutiert. Die Keratinozyten gehen schließlich unter, durch eine Interaktion von FASL, dem aktivierenden Liganden des FAS-Rezeptors, und FAS, durch Freisetzung Membran-schädigender Perforine, die eine direkte "Porenbildung" in der Zellmembran verursachen. Auf Grund dieser zytotoxischen Aktivitäten lassen sich Vakuolisierung, Pigmentinkontinenz (Verlust von Melanin in die Dermis), apoptotische "Kamino-Körperchen" als morphologische Phänomene der lichenoiden Reaktion erklären .
Lokalisationen: Bevorzugt findet sich der Lichen planus an den Schleimhäuten (65%), oft an Haut und Schleimhäuten (20%) und seltener isoliert an der Haut (10%). Durch Beteiligung der Nägel und Haare kann es zu dauerhaften Nageldystrophie bzw. zur vernarbenden irreversiblen Alopezie kommen. Die Liste der Nagelveränderungen beim Lichen ruber ist lang und reicht von der kosmetisch störenden Trachyonychie bis hin zum kompletten Verlust des Nagelorgans (s. Enzyklopädie Medizin)
 

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
Zweifellos ist der Lichen ruber eine faszinierende, vielgestaltige Autoimmunerkrankung der Haut und Schleimhaut. Neben Haut/Schleimhaut sind keine anderen Organe betroffen. Die Wiedergabe des klinischen, vielgestaltigen Bildes des Lichen ruber würde das Format dieses Newsletters bei weitem sprengen. Das betrifft auch die Therapie des Lichen ruber. Diese muss an die lokale Situation adaptiert sein (s.u. den jeweiligen Krankheitsbildern). Sie setzt eine subtile, therapeutische Fingerspitzen-Erfahrung voraus, die vom pflegenden Abwarten über eine milde Steroidtherapie bis hin zur konsequenten lokalen und ggfls. systemischen Immunsuppression (erosiver Lichen ruber der Mundschleimhaut) reicht. Hier ist das Feld für dermatologische Könner bereitet.
An der Leisten- und Felderhaut wie auch an der Schleimhaut heilt der „normale“ Lichen ruber, bis auf längerzeitige Hyperpigmentierungen, meist folgenlos ab. An den Hautanhangsgebilden können jedoch Schäden auftreten wie Haarlosigkeit (Lichen ruber follicularis) und Nageldystrophien bis hin zur Anonychie. Sicherlich werden uns die nächsten Jahre weitere Erkenntnisse über die Pathogenese dieser faszinierenden Erkrankung bringen. Möglicherweise auch neue Therapieansätze.
Bleiben Sie somit auch dermatologisch neugierig,
Ihr
P. Altmeyer

Literatur:
v. Hebra F. und Moriz Kaposi, in Rudolf Virchow, Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie zweite Auflage S. 388
Pandhi D et a. (2014) Lichen planus in childhood: a series of 316 patients. Pediatr Dermatol 31:59-67
Wilson E (1869) On lichen planus. J Cutan Med 8: 117
 
Frau Dr. Kaja König danke ich vielmals für das Korrekturlesen dieses Manuskriptes.

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