09.02.2022

Dermatologie Ist Systemrelevant

Das Dasein als Rentner hat neben dem Nachteil, dass man jährlich um 1 Jahr altert und dieses auch im Gegensatz zu jüngeren Zeitgenossen so empfindet

Das Dasein als Rentner hat neben dem Nachteil, dass man jährlich um 1 Jahr altert und dieses auch im Gegensatz zu jüngeren Zeitgenossen so empfindet, den großen Vorteil den man sich mit der Bedächtigkeit erwirbt. Bedächtigkeit führt zu einer neuen Form des Denkens, in dem Geduld und Gelassenheit die wahren Quellen von Intelligenz und Erkenntnis sind. Waren die früheren Dienstzeiten von einem strengen Zeitregime gekennzeichnet, so weicht dieses Diktat im Rentenalter einer ungesteuerten, zufälligen Zeitplanung, ohne dass man diesen Zustand  wirklich bereuen würde. Wir richten uns ganz gut in dieser individuellen Zeitzone ein. Allerdings bedarf es in etwa eines guten Jahres um endlich zu dieser tiefen Erkenntnis zu kommen. Es reut auch nicht, wenn man die Zeit für Antiquariate findet um dort den Geist unserer dermatologischen Väter und Vorväter zu erkunden. Wie genau haben unsere Ahnen morphologische Veränderungen beschrieben? Wie konnte sich aus ihrem Blickwinkel und ihrem damaligen doch recht rudimentären ätiopathogenetischen Wissenstand eine Systematik der Dermatologie entwickelt, die auch heute noch standhält. Tatsächlich haben die Fortschritte der Medizin in unserem Fach weniger in der klinischen Morphologie stattgefunden. Diese sollte aber sicher beherrscht werden. Sie ist unser tief verwurzeltes Alphabet und ruht nach wie vor auf dem 150-200 Jahre alten gedanklichen Gerüst der Londoner und Wiener Schule um Willan und Hebra. 

Der Dermatologe auf dem Weg zum Internisten

Die tatsächlichen Fortschritte der letzten 30 Jahren fanden woanders statt. Es waren v.a. die immunologischen, genetischen und biochemischen Erkenntnisse. Sie sind einfach als atemberaubend, ja als revolutionär zu bezeichnen und haben tatsächlich zu einem tiefgreifenden Wandel in der Einstellung zu unserem Fach geführt.
Der Dermatologe auf dem Weg zum Internisten? Wir verstehen inzwischen immer besser die Zusammenhänge zwischen Haut und Gesamtorganismus. Wir begreifen besser biochemische und immunbiologische Abläufe. Damit bewegen wir uns gedanklich weg von der quasi isolatorischen Sonderstellung des Integumentes im Verhältnis zum Gesamtorganismus hin zu der Vorstellung, dass die Haut und die hautnahen Schleimhäute essenzielle Funktionen im immunologischen Gesamtgefüge des Organismus ausüben. Die COVID-19-Infektion, die ihr Entree im Schleimhautbereich hat, belegt diese These eindrücklich. 

Interleukine Meilenstein der Forschung

Die Interleukinforschung der letzten beiden Jahrzehnte war ein Meilenstein mit einer Fülle neuer Erkenntnisse. Diese haben zu neuen pathogenetischen Vorstellungen und v.a. auch zu neuen systemischen Therapieansätzen geführt. Die gezielte Blockade eines Interleukins mit einem Antikörper oder die Blockade seines Rezeptors führte zu einem Bündel neuer Therapeutika. Sowohl bei inflammatorischen Erkrankungen wie auch in der Tumortherapie.

Neue Methoden

Dabei halfen auch neue Methoden in der Elektronenmikroskopie wie die dreidimensionale Kryo-Elektronenmikroskopie. Diese eröffnet uns inzwischen die Möglichkeit der 3-dimensionalen Darstellung der Einzelkomponenten von Makromolekülen, so auch von Antikörpern, von ihren Rezeptoren und von ihren Aktionen. Mittels feinster Messmethoden der Molekularbiologie lassen sich sehr genau die zellulären elektrischen Potentiale, die durch Aktivierung oder Blockierung eines Rezeptors ausgelöst werden, messen. Diese Methode erlaubt es  in Frage kommende Therapeutika  an Zellmodellen breit zu screenen. Auch dies führt zu einem Verständnis wie Zellen, Rezeptoren oder Rezeptorkanäle funktionieren. Diese Erkenntnisse führte zu einem neuen Krankheitsbegriff den „Kanalopathien“ als den Erkrankungen die auf Defiziten von  Rezeptoren beruhen. Hinzu kommen die Erkenntnisse und revolutionären Techniken in der Genetik. Das gezielte Abschalten von Genen führt zu fundamentalen Erkenntnissen in ihre biologischen Funktionen und damit zum Verständnis pathogenetischer Abläufe.
 

Die inflammatorische Modellerkrankung Psoriasis

Liebe Kollegen und Kolleginnen, es ist kompliziert und spannend geworden in unserer Medizin. Das Bündel an Innovationen  und Erkenntnissen führte dazu, dass die Psoriasis als eine leicht beforschbare, Interleukin12,17 und 23 getriggerte Erkrankung als ein Paradebeispiel für eine inflammatorische Systemerkrankung in die Forschung einging. Sie steht beispielhaft auch für andere inflammatorischen Erkrankungen mit einem analogen Interleukinmuster. Dies gilt für die chronische Polyarthritis, den Morbus Bechterew und auch den Morbus Crohn. Die bekannten breiten Assoziationen zwischen Psoriasis und anderen Erkrankungen belegen weiterhin den Systemcharakter der „Schuppenflechte“.    

Systemtherapeutika - Innovation und Herausforderung

Ein Blick auf die neuen, in den letzten zwanzig Jahren entwickelten und eingeführten 28 antipsoriatischen Systemtherapeutika, die durch Injektionen oder Tabletten dem Körper zugeführt werden, verdeutlicht, welche beeindruckenden Forschungs- und Entwicklungsleistungen in diesem Zeitraum zum Wohl der Patienten erbracht wurden. 
Das Angebot an antiinflammatorischen Systemtherapeutika in der Dermatologie ist zur Zeit nur vergleichbar mit den Innovationen in der Dermatoonkologie. Ein ähnlicher Umbruch bahnt sich in der Behandlung der atopischen Dermatitis an. Auch hier sind wir als Dermatologen durch neue Systemtherapien gefordert; Dupilumab markiert nur einen Anfang. Es war spannend zu erfahren, dass Dupilumab neben der atopischen Dermatitis auch bei einem Krankheitsbild wie der Prurigo nodularis wirksam ist, einem Krankheitsbild das bisher als ätiopathogenetische und therapeutische „Black Box“ galt.
 

Lasst uns aufbrechen zu neuen Ufern

Wir sollten darauf hinweisen, dass bis zur Markteinführungen dieser neuen Präparate unzählige Arbeitsstunden an Grundlagenforschung, klinischer Forschung, pharmakologischer und pharmazeutischer Aktivitäten, gesundheitspolitischer und merkantiler Erwägungen neben dem immensen materiellen Aufwand erbracht wurden. Wir ziehen vor den vielen Akteuren hinter diesen Leistungen dankbar den Hut. Was eine engagierte Forschungs- und Entwicklungstätigkeit im Dienste der Menschheit im Ernstfall leisten kann, wurde gerade an der so dringend benötigten Impfstoffbereitstellung gegen das Coronavirus deutlich. Auch hier sind mit den RNA-Impfstoffen völlig neue Gentherapeutika im Einsatz.  
Auf dem Gebiet der Systemtherapeutika sind neben den originären, biotechnologisch hergestellten Biologika, deren als Biosimilars bezeichnete Nachahmerpräparate auf dem Vormarsch. Als biologisch hergestellte Pharmaka sind sie strukturell nicht komplett identisch mit dem Original, wie das bei den sogenannten Generika der Fall ist, jedoch in gleichem Maße wirksam wie das Ausgangsprodukt. Ihr Vorteil ist der deutlich günstigere  Verbraucherpreis,  der die finanziellen Aufwendungen der Krankenkassen zu mindern hilft. Ursache dafür sind die nach Ablauf des Patentrechtes eines Biologikums nicht mehr ins Gewicht fallenden Forschungs- und Entwicklungskosten. Allein vom Adalimumab (Humira ) sind gegenwärtig 8 solcher Biosimilars auf dem Markt.
 

Schaltet man ein Gen aus, so kann man den Krebs ausschalten. 

Eine weitere völlig neue und innovative Gruppe von Genherapeutika bezieht sich auf die RNA-Therapeutika. Zwanzig Jahre nach der Entdeckung der RNAi, dem Mechanismus des „posttranskriptionellen Gene-Silencing“ für dessen Entdeckung Andrew Fire und Craig Mello 2006 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielten, hat diese Substanzgruppe die besten  Chancen, in naher Zukunft als neue Medikamentenklasse in die klinische Versorgung aufgenommen zu werden (Hu B et al. 2019). Kleine interferierende RNAs (siRNAs) können verwendet werden, um spezifische Tumorgene die  schädliche oder abnormale Proteine induzieren auszuschalten (Prinzip: schaltet man das Gen aus, so kann man den Krebs ausschalten). Es werden besondere Carrier benötigt, die den siRNAs den Weg in die Zelle ermöglichen. Diese Carrier hat man inzwischen gefunden. Es sind verschiedene Nanopartikel (Liposomen, polymere Nanopartikel, Dendrimeren u.a.). Eine kleinere Anzahl von klinischen Studien der Phase I ist inzwischen bei Patienten mit soliden Tumoren abgeschlossen.
Der Vorteil der siRNA-Therapeutika ist evident! Sie sind relativ einfach und in großem Maßstab zu synthetisieren und herzustellen. Sie können somit als breites biologisches Werkzeug genutzt werden, mit dem fast alle Gene und deren schädliche oder abnormale Proteine potentiell unterdrückbar sind.
Auch mit dieser Medikamentengruppe wird sich der Entscheidungsaufwand für Ärzte und Patienten weiter erhöhen. Dies bedeutet aber auch, dass wir uns mit neuesten Forschungsergebnissen beschäftigen müssen um geeignete Mittel für die Betroffenen zu finden. Ganz bewusst sind hierbei auch die wohlbekannten konventionellen Systemtherapeutika in dieses Konzept miteinzubeziehen um unter Berücksichtigung der jeweiligen Schwere des Krankheitsbildes, der Compliance und der Kosten das geeignete Mittel für den Betroffenen zu finden. Das ist zwar eine komfortable „Qual der Wahl“, von der wir jedoch vor dreißig Jahren nicht zu träumen wagten. Aber es bürdet uns Ärzten auch ein hohes Verantwortungsbewusstsein auf. 

Wir sind als Dermatologen systemrelevant

Wenn sich die Autoren dieses Artikels zu Beginn mit einer gewissen Freude über die Bedächtigkeit ihres Daseins ausgelassen haben, so waren  Geduld und Gelassenheit die Quellen unserer Ausführungen. Wir haben diesen Artikel auch als Weckruf für alle Ärzte gedacht, die in der Komfortzone der kosmetisch-externistischen Dermatologie ihr Heil gesucht haben. An diesen Kollegen wird diese neue Zeit vorbeigehen ohne Spuren zu hinterlassen. Die wahre Dermatologie aber ist bei den Kollegen in guten Händen, die unser Fach zwar als morphologisch geprägte Sparte begreifen, die aber offen sind für seine Systemrelevanz. Diese Kollegen werden offensiv Systemtherapeutika und auch deren Therapiemanagement in die Hand nehmen. Aus unserer Sicht gilt: „Seien wir als Dermatologen systemrelevant“.         
Hinweis: Literatur kann bei den Verfassern angefordert werden.
 
Mit kollegialen Grüßen
Ihre
J. Barth/Leipzig                                                                  P. Altmeyer/Duino    

Zurück zur Übersicht