RNAI-Therapie
Synonym(e)
Definition
RNA-Therapie ist ein Begriff, der die Anwendung von RNA-basierten Molekülen zur Modulation biologischer Prozesse mit dem Ziel der Behandlung spezifischer Erkrankungen beschreibt. Im Allgemeinen ist die RNA-Sequenz der Schlüssel zur Beeinflussung der Expression oder Aktivität ihrer Zielmoleküle. Sobald die Nukleinsäurechemie und die Verabreichungsmethode etabliert sind, kann die Herstellung von RNA-basierten Medikamenten für ein neues Zielmolekül mithilfe dieser etablierten Methoden in relativ kurzer Zeit erfolgen.
Historische Entwicklung:
Es gab in der Vergangenheit jedoch eine zweite, ebenso wichtige, aber weniger beachtete Entdeckung, die für die RNA-Forschung von entscheidender Bedeutung war: die Erkenntnis, dass zwei RNAs Basenpaare bilden können. Obwohl diese Information heute als selbstverständlich gilt, glaubten frühe RNA-Forscher nicht, dass RNA eine Doppelhelixstruktur ausbilden kann. 1956 veröffentlichten Rich und Davies jedoch die ersten Nukleinsäurehybridisierungsreaktionen, die zeigten, dass RNA aufgrund der gleichen Basenkomplementarität eine ähnliche Konfiguration wie DNA bilden kann . Diese Entdeckung bildete die Grundlage für die nachfolgende Entdeckung von microRNAs (miRNAs) im Jahr 1993 und der RNA-Interferenz im Jahr 1998, bei der die Bildung von RNA-Duplexen ein Schlüsselschritt der RNA- Interferenz ist.
Die erste Anwendung der RNA-Basenpaarung zu therapeutischen Zwecken wurde 1978 von Stephenson und Zamecnik beschrieben. Sie entwickelten ein Antisense-Oligonukleotid, das auf die 35S-RNA-Sequenz des Rous-Sarkomvirus (RSV) abzielte, um die Virusreplikation zu hemmen.
Etwa 20 Jahre später wurde das erste Medikament mit einem Antisense-Oligonukleotid von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zur Behandlung der Zytomegalievirus-Retinitis zugelassen (Roehr B 1998).
Im Gegensatz zur langen Entwicklungsgeschichte von Antisense-Oligonukleotid-basierten Medikamenten verging vergleichsweise wenig Zeit von der Entdeckung kleiner interferierender RNAs (siRNAs) bis zu deren Anwendung als Arzneimittel.
Das Phänomen der RNA-Interferenz (RNAi) wurde erstmals 1998 beschrieben. Hierin wurde gezeigt, dass die Behandlung von Caenorhabditis elegans -Embryonen mit einer Mischung aus Sense- und Antisense-RNAs zu einer starken und spezifischen Hemmung endogener Ziel-mRNAs führte. Da die RNA-Interferenz (RNAi) einfach und wirksam ist, wurde sie von der wissenschaftlichen Gemeinschaft rasch übernommen und umfassend angewendet z.B (McCaffrey AP et al. 2002).
2010 wurden die ersten auf RNAi-Technologien basierten klinischen Studien zur Behandlung eines Patienten mit fortgeschrittenem Melanom eingesetzt (Davis ME et al. 2010). Hierbei wurde die erfolgreiche Spaltung der Ziel-mRNA durch die Verabreichung der siRNA beschrieben. Daran im Anschluss wurden mehrere siRNA-basierte Medikamente entwickelt. Das erste siRNA-Medikament für Patienten mit hereditärer Transthyretin-vermittelter Amyloidose wurde 2018 zugelassen.
2013 wurden erstmals mRNA-Vakzine gegen Infektionskrankheiten (Tollwut) eingesetzt. Die Behandlung mit dieser mRNA-Vakzine führte zu funktionellen Antikörper gegen diese viralen Antigene (Alberer M et al. 2017). 2020 dann der erste mRNA-basierte Impfstoff das schwere akute respiratorische Syndrom Coronavirus 2 (SARS-CoV-2), der in den meisten Ländern der Welt zugelassen wurde.
Bemerkung: Einer der größten Vorteile RNA-basierter Medikamente ist ihre Fähigkeit, nahezu jede genetische Komponente innerhalb der Zelle gezielt anzusteuern. RNA-basierte Medikamente, darunter Antisense-RNA und siRNA, wirken durch sequenzspezifische Bindung an ihre Zielmoleküle. Dies legt nahe, dass diese Medikamente bei der gezielten Beeinflussung nicht-kodierender RNAs besonders wirksam sein dürften (Frankish A et al.2019; Esteller M 2011; Song J et al. 2012). Insofern ist anzunehmen, dass die Bedeutung von RNA-Medikamenten weiter zunehmen wird.
Einteilung
Antisense-Oligonukleotide
Antisense-Oligonukleotide modulieren die Expression von Ziel-RNAs durch sequenzspezifische Bindung. Obwohl die Struktur dieser Antisense-Oligonukleotide primär durch ihre spezifische Sequenz bestimmt wird, kann ihre chemische Struktur modifiziert werden, um neue Effekte zu erzielen. Diese Modifikationen können die Spezifität und Stabilität von Antisense-Oligonukleotiden erhöhen (Roberts TC et al. 2020). Fomivirsen war das erste von der FDA im Jahr 1998 zugelassene Antisense-Oligonukleotid-Medikament und wurde zur Behandlung der Zytomegalievirus-Retinitis, insbesondere bei HIV-positiven Patienten, eingesetzt. Fomivirsen bindet an die mRNA des Zytomegalievirus (CMV), die für das Immediate-Early-2-Protein kodiert, welches für die CMV-Replikation essenziell ist (Roehr B 1998). Die FDA nahm das Medikament jedoch im Jahr 2001 vom Markt, da die antiretroviralen Therapien bei HIV-Patienten die Nachfrage nach Fomivirsen deutlich reduzierten.
Kleine interferierende RNAs
siRNAs nutzen den endogenen RNAi-Signalweg, um die Expression ihrer Ziel-RNAs zu modulieren. Bei der nativen RNAi bilden endogene kleine RNAs einen Komplex mit dem Argonaute-Protein (Ago) und produzieren so einen RNA-induzierten Silencing-Komplex (RISC). Dieser unterdrückt dann die Expression ihrer Ziel-mRNAs durch sequenzspezifische Bindung (Ha M et al. 2014). siRNA-basierte Medikamente nutzen denselben Mechanismus, um eine ähnliche Wirkung zu erzielen. siRNA-Duplexe schließen sich nach ihrer Integration in den RISC dem nativen RNAi-Signalweg an. Dabei wird nur der Leitstrang vom Ago-Protein gebunden, während der Passagierstrang verworfen wird. Der Leitstrang richtet die RISC-Aktivität dann gezielt gegen sein Ziel.
Aptamere
Aptamere sind Nukleinsäurekonstrukte, die spezifische Proteine binden, um deren Funktion zu modulieren. Bislang ist nur ein RNA-basiertes Aptamer-Medikament (Aptamere werden durch Anhängen des Suffixes „-apt-“ benannt) von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassen. Pegaptanib ist ein 28 Nukleotide langes Konstrukt mit zwei Polyethylenglykol (PEG)-Resten an seinem Ende (Gragoudas ES et al 2004). Dieses Aptamer bindet an die Isoform 165 des vaskulären endothelialen Wachstumsfaktors (VEGF), blockiert dessen Interaktion mit seinem Rezeptorprotein und hemmt dadurch die Zellproliferation, den wichtigsten nachgeschalteten Effekt der VEGF-Signalübertragung. Aufgrund dieser Wirkung wurde Pegaptanib als Therapeutikum für die feuchte (neovaskuläre) altersbedingte Makuladegeneration (AMD) entwickelt (Gragoudas ES et al 2004). Obwohl Pegaptanib aufgrund der Konkurrenz durch verschiedene Antikörper-basierte Medikamente mit ähnlicher Wirksamkeit derzeit selten eingesetzt wird, ist es ein gutes Beispiel dafür, wie RNA-basierte Aptamere als Therapeutika verwendet werden können. Mehrere RNA-basierte Aptamere befinden sich in der Entwicklung, und weitere Aptamer-basierte Therapeutika werden voraussichtlich in Zukunft verfügbar sein .
Bereits zugelassene RNAi-Therapeutika:
- Patisiran (Onpattro): Dies war das erste zugelassene RNAi-Therapeutikum. Es wurde in der EU im Jahr 2018 für die Behandlung der hereditären Transthyretin-vermittelten Amyloidose (hATTR) zugelassen. Diese Krankheit führt zu einer Ansammlung von fehlerhaften Proteinen in verschiedenen Organen, was zu schweren Symptomen führt. Häufige Nebenwirkungen umfassen Infusionsreaktionen (wie Rötung, Juckreiz, Kurzatmigkeit), Kopfschmerzen, periphere Ödeme, Übelkeit und Reaktionen an der Infusionsstelle. Schwere allergische Reaktionen sind ebenfalls möglich, aber weniger häufig.
- Givosiran (Givlaari): Zugelassen im Jahr 2020 in der EU, wird Givosiran zur Behandlung der akuten hepatischen Porphyrie verwendet, einer Gruppe seltener genetischer Stoffwechselstörungen. Bei der Behandlung der akuten hepatischen Porphyrie kann Givosiran Nebenwirkungen wie Übelkeit, Dunkelfärbung des Urins, Hautausschlag und erhöhte Leberenzyme verursachen. In seltenen Fällen können auch schwere allergische Reaktionen auftreten.
- Lumasiran (Oxlumo): Dieses Medikament wurde im Jahr 2020 für die Behandlung der primären Hyperoxalurie Typ 1, einer seltenen genetischen Störung, die zu einer übermäßigen Produktion von Oxalat führt, von der EU-Kommission zugelassen. Nebenwirkungen: Injektionsreaktionen, Bauchschmerzen, Infektionen der oberen Atemwege und Fieber.
- Inclisiran (Leqvio): Zugelassen im Jahr 2021, wird Inclisiran zur Behandlung von Hypercholesterinämie oder gemischter Dyslipidämie eingesetzt. Nebenwirkungen: Injektionsreaktionen, Gelenkschmerzen, Harnwegsinfektionen und Atemwegsinfektionen.
Pharmakodynamik (Wirkung)
RNA-Therapeutika wirken, indem sie die Expression und Aktivität spezifischer Zielmoleküle beeinflussen und so die Behandlung von Krankheiten ermöglichen, die auf herkömmliche Medikamente nicht ansprechen. Solche Therapien lassen sich an ein breites Spektrum verschiedener RNA- und Proteinformen anpassen und könnten den Weg für personalisierte Medizin und Therapien seltener Erkrankungen ebnen. Allerdings sind RNA-basierte Medikamente größere Moleküle als andere Therapeutika, was die gezielte Verabreichung im Körper erschwert. Kim betont daher, dass die Gewährleistung einer effektiven RNA-Wirkstoffverabreichung ein zentrales Anliegen zukünftiger Forschung sein sollte (Kim YK 2022).
Die RNA-Interferenz (RNAi) ist ein natürlicher biologischer Prozess, der in der Entwicklung von RNAi-Therapeutika genutzt wird, um die Genexpression in Zellen gezielt zu modifizieren. Dieser Prozess beginnt mit der Einführung von kleinen interferierenden RNAs (siRNAs) oder mikro-RNAs (miRNAs) in die Zelle. Diese RNA-Moleküle sind speziell entwickelt worden, um sich an die Boten-RNA (mRNA) eines bestimmten Zielgens anzulagern. Sobald die siRNA oder miRNA in die Zelle eingebracht ist, wird sie in den RNA-induzierten Silencing-Komplex (RISC) eingebaut. Innerhalb dieses Komplexes bindet der verbleibende RNA-Strang an seine komplementäre Sequenz in der Ziel-mRNA, was entweder zu einem Abbau der mRNA oder zu einer Hemmung ihrer Übersetzung in ein Protein führt.
Diese Hemmung oder der Abbau verhindert die Produktion des entsprechenden Proteins, was zu einer "Stilllegung" des Zielgens führt. Durch diese gezielte Genregulation kann RNAi genutzt werden, um die Expression von krankheitsverursachenden Genen zu unterdrücken, wobei die Spezifität des Prozesses hilft, Nebenwirkungen zu minimieren. RNAi-Therapeutika bieten daher einen präzisen und effektiven Weg, um genetische und andere Erkrankungen auf molekularer Ebene zu behandeln.
Indikation
Genetische Erkrankungen: RNAi-Therapeutika können genetische Störungen behandeln, die durch überaktive oder fehlerhafte Gene verursacht werden. Beispielsweise kann RNAi genutzt werden, um die Produktion eines abnormalen Proteins zu reduzieren, das bei bestimmten genetischen Erkrankungen eine Rolle spielt.
Krebs: Bei einigen Krebsarten können z. B. Onkogenen oder deren Produkte die das Tumorwachstum fördern ausgeschaltet werden. RNAi kann gezielt eingesetzt werden, um die Expression dieser Gene in Krebszellen zu unterdrücken, was zu einer verlangsamten Tumorprogression oder sogar zum Zelltod führen kann.
Infektionskrankheiten: RNAi-Therapien können auch entwickelt werden, um Gene zu unterdrücken, die für die Reproduktion von Viren innerhalb infizierter Zellen wichtig sind. Dies könnte insbesondere bei der Behandlung von viralen Infektionen wie HIV, Hepatitis B und C oder Influenza von Bedeutung sein .
Augenerkrankungen: RNAi kann bei der Behandlung bestimmter Augenerkrankungen, wie der altersbedingten Makuladegeneration (AMD), eingesetzt werden, indem es die Gene abschaltet, die zu schädlichen Wachstum von Blutgefäßen im Auge beitragen.
Neurodegenerative Erkrankungen: Bei Krankheiten wie Alzheimer oder Chorea Huntington könnte RNAi dazu verwendet werden, die Produktion von toxischen Proteinen zu reduzieren, die mit der Krankheitsprogression in Verbindung stehen.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen: RNAi könnte helfen, Gene zu regulieren, die an Herz-Kreislauf-Erkrankungen beteiligt sind, wie solche, die zur Regulierung des Cholesterinspiegels beitragen.
Stoffwechselstörungen: Es gibt Anwendungsmöglichkeiten für RNAi bei der Behandlung von Stoffwechselstörungen, beispielsweise durch die Regulierung von Genen, die an der Glukose- und Fettstoffwechsel beteiligt sind.
Literatur
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- Kim YK (2020) RNA-Therapie: RNA therapy: current status and future potential. Chonnam Med J. 56:87–93.
- Kim YK (2022) RNA therapy: rich history, various applications and unlimited future prospects. Exp Mol Med 54:455-465.
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