Angioödeme hereditäre (Übersicht) D84.1

Zuletzt aktualisiert am: 27.12.2023

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Synonym(e)

Hereditäre Angioödeme

Erstbeschreiber

Das Wissen über seltene genetische Krankheiten wie das hereditäre Angioödem (HAE) hat sich parallel zur Entwicklung neuer molekularer Werkzeuge weiterentwickelt. Der Mangel an C1-Inhibitor (C1-INH) ist seit den 1960er Jahren als Hauptursache des HAE (HAE-C1-INH) anerkannt. Die Entdeckung des breiten Spektrums von Mutationen, die das C1-INH-Gen (SERPING1) betreffen, war erst ab Ende der 1980er Jahre möglich, als die Sanger-Sequenzierung verfügbar und weltweit leichter zugänglich wurde.

Die Beteiligung anderer Gene am HAE wurde jedoch erst 2006 mit der Beschreibung von Mutationen im F12-Gen bei Patienten mit HAE und normalem C1-INH entdeckt. Die durch die neue Ära der Genomik gewonnenen Erkenntnisse waren entscheidend für die Entdeckung von Mutationen in weiteren Genen, die das Verständnis für die komplexe Pathogenese dieses phänotypisch weitgehend identischen  Krankheitsbildes verbessert bzw. erklärbar macht. In den letzten drei Jahren ermöglichten fortschrittliche Sequenzierungstechniken der nächsten Generation die Identifizierung von Mutationen in fünf weiteren neuen Genen, die mit hereditären Angioödemvarianten mit normalem C1-INH (nC1-INH-HAE) in Verbindung gebracht werden konnten: ANGPT1 (Angiopoietin-1), PLG (Plasminogen), KNG1 (Kininogen), MYOF (Myoferlin) und HS3ST6 (Heparansulfat-Glucosamin-3-O-Sulfotransferase 6).

Einteilung

Hereditäre Angioödeme:

Typ I Hereditäres Angioödem, Mutation in Serping1 (C1-INH-Defizienz)

Typ II Hereditäres Angioödem, Mutation in Serping1 (C1-INH-Dysfunktion)

_____________________________________________________

Typ III Hereditäres Angioödem, Mutation in Faktor XII (F12)

Typ IV Hereditäres Angioödem, Mutation in Plasminogen (PLG)

Typ V Hereditäres Angioödem, Mutation in  Angiopoietin 1 (ANGPT1)

Typ VI Hereditäres Angioödem, Mutation in Kininogen 1 (KNG1)

Typ VII Hereditäres Angioödem, Mutation in Myoferlin (MYOF)

Typ VIII Hereditäres Angioödem, Mutation in Heparansulfat (HS)-Glucosamin 3-O-Sulfotransferase 6 (HS3ST6)

Typ U Hereditäres Angioödem, genetischer Defekt unbekannt

Ätiopathogenese

Grundsätzlich kann man bei den hereditären Angioödemen unterscheiden zwischen:

  • hereditären Angioödemen mit Mutation im C1-Esterase-Inhibitor-Gen (SERPING1): C1-INH-HAE (HAE-Typ I/ HAE-Typ II)

         und

  • hereditären Angioödeme ohne nachweisbare Mutation im SERPING1-Gen: nC1-INH-HAE (HAE-Typen III - VIII) mit normalem C1-INH (s.u. Einteilung).

Bemerkung: Mutationen in SERPING1, dem Gen, das für den C1-INH (C1-Esterase-Inhibitor) kodiert, sind für die ganz überwiegende Mehrzahl der Fälle von hereditärem Angioödem verantwortlich (85%). Der C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) ist ein wichtiger Regulator kritischer Enzyme, die an den Kaskaden der Bradykininbildung beteiligt sind. Diese erhöhen die Gefäßpermeabilität und ermöglichen den Fluss von Flüssigkeiten in den extrazellulären Raum. Störungen in dieser Kasakade kann zu akuten Schwellungszuständen (Angioödem) führen.

 

Lokalisation

Gesicht, Extremitäten (v.a. Arme, seltener Beine), Genitalien; auch Lippen, Zunge, Larnyx,  Abdomen (Bauchkrämpfe). Akut lebensbedrohlich sind Kehlkopfschwellungen.

Therapie

Die Therapie des hereditären Angioödems sollte individuell auf die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt sein.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Behandlung:

Akuttherapie:  Je nach Alter des Patienten gibt es verschiedene für die Behandlung zugelassene Medikamente. Die Medikamente Berinert®, Cinryze® und Conestat alfa (Ruconest® ) ersetzen den fehlenden C1 Inhibitor. Die Medikamente Icatibant (Firazyr® : Blockade des  Bradykinin-B2-Rezeptors) und Lanadelumab (Takhzyro® : monoklonaler Antikörper gegen Plasmakallikrein) hemmen auf unterschiedliche Weise die Wirkung von Bradykinin‎. Bradykinin ist federführend für die Symptomentstehung beim HAE verantwortlich.

  • Im Hals- und Kopfbereich sollte jede Attacke in allen Altersgruppen behandelt werden
  • Therapie sollte so früh wie möglich beginnen
  • Kinder < 6 Jahre: Alle Attacken (auch des Magen-Darmtrakts und der Arme und Beine) sollten behandelt werden
  • Kinder > 6 Jahre: Bei Attacken außerhalb des Kopf/Hals-Bereiches sollte eine Therapie erwogen werden (Indikation nach Schweregrad)
  • Die Medikation muss  jederzeit kurzfristig verfügbar sein

Kurzzeitprophylaxe : Eine Kurzzeitprophylaxe wird vor Eingriffen im Kopf/ Halsbereich empfohlen. Dies betrifft einen operativen medizinischen Eingriff, z. B. eine Zahnbehandlung, bevorsteht. Einsatz von Berinert® (i.v.), alternativ: Cinryze®.

  • Empfohlen für alle gewebstraumatisierende und operative Eingriffe im Kopf-Halsbereich
  • Wird auf Kurzzeitprophylaxe verzichtet, sollte als Notfallmedikation ein C1 Inhibitor Konzentrat griffbereit sein
  • Gabe der Kurzzeitprophylaxe möglichst zeitnah vor dem Eingriff

Langzeitprophylaxe: Diese hat zum Ziel, Schwellungsattacken langfristig vorzubeugen. Die Möglichkeit einer dauerhaften, vorbeugenden Behandlung kann bei Patienten in Lebenssituationen erwogen werden, die mit erhöhter Krankheitsaktivität (nach Häufigkeit und Schwere der Attacken beurteilt) verbunden sind. Auch die Krankheitslast als solche kann für eine prophylaktische Therapie berücksichtigt werden. Zudem ist eine Langzeitprophylaxe bei Patienten sinnvoll, die mit wiederholten Bedarfsbehandlungen nur unzureichend therapiert werden können.

  • Eine Langzeitprophylaxe findet nicht standardmäßig bei allen Patienten statt. Sie ist abhängig vom Alter des Patienten und des Krankheitsgeschehens. Ab 12 Jahre wird Cinryze® bzw. Berinert® (s.c.) oder Lanadelumab (Takhzyro®) empfohlen. Für die Entscheidung zu einer Langzeitprophylaxe sollten die Häufigkeit der Attacken, die individuelle Belastung durch die Krankheit und die Beeinträchtigung des üblichen Tagesablaufs berücksichtigt werden. Im Regelfall erfolgt keine Langzeitprophylaxe bei weniger als zwei Attacken pro Monat.

Begleitmedikation:  Bei milden ventralen Attacken kann es ausreichend sein, nur  krampflösende Medikamente zu verordnen.

Therapie des Larynxödems: Patienten mit einem HAE im Kopfbereich mit Ödem‎ des Rachens oder Kehlkopfes sind wegen der drohenden Erstickungsgefahr ein Notfall und sollten unverzüglich stationär behandelt und überwacht werden. Alle betroffenen Patienten müssen schnellstmöglich mit einem C1-Inhibitor oder Firazyr® medikamentös behandelt werden. Eine Intubation‎ des Patienten ist notwendig, wenn es zu einer bedrohlichen Atemnot kommt (s.a. Angioödem der Kopf-Halsregion)

Unterstützende Maßnahmen: Um eine schnelle Behandlung beginnender Schwellungen zu ermöglichen, sollten ältere Patienten sowie Eltern, andere Angehörige, Lehrer und andere Bezugspersonen über das Krankheitsbild informiert sein. Sie sollten in der Lage sein eine lebensbedrohliche Situation zu erkennen (z.B. Larynxödem) und gezielt handeln (Notfallbereitschaft aktivieren).

  • Der Patient sollte immer einen Notfallplan bei sich tragen, auf dem ersichtlich ist, welche Maßnahmen zu ergreifen sind. Ebenso sollten alle Betroffenen einen Notfallausweis mit sich führen.
  • Patienten mit einem HAE durch C1-INH-Mangel sollten immer ein Notfallmedikament ausreichend für zwei Dosierungen zu Hause vorrätig halten und bei Reisen mit sich führen. Im nächstgelegenen Krankenhaus sollten der Patient und die Krankheit bekannt sein.
  • Bei Schulkindern sollten die Lehrer darüber informiert sein, dass akute Attacken auftreten können. Vor zahnärztlichen Operationen, auch Zahnextraktionen, sowie anderen Operationen im Mund-Rachen-Bereich sollten Patienten mit HAE durch C1-INH-Mangel eine Stunde vor dem Eingriff 20 Einheiten pro kg Körpergewicht C1-INH Konzentrat erhalten (s. Kurzzeitprophylaxe).

Heimselbstbehandlung: Da es sich bei HAE um eine lebenslang andauernde Erkrankung handelt, gibt es die Möglichkeit der Heimselbstbehandlung. Diese ist nur mit Einverständnis des behandelnden Arztes und nach einer Schulung der Eltern oder der Patienten selbst durch den Arzt möglich. Durch die Selbstbehandlung kann eine Schwellungsattacke früher behandelt werden und die Schwere der Schwellung ist meist geringer .

Literatur
Für Zugriff auf PubMed Studien mit nur einem Klick empfehlen wir Kopernio Kopernio

  1. Hubiche T et al. (2005) Érythème annulaire réticulé annonciateur de crises d’œdème angioneurotique héréditaire chez un enfant. Ann Dermatol Venereol132: 249–251.

  2. Rasmussen ER et al. (2016) Urticaria and Prodromal Symptoms Including Erythema Marginatum in Danish Patients with Hereditary Angioedema. Acta Derm-Venereol 96: 373–376.

  3. Santacroce R et al. (2021) The Genetics of Hereditary Angioedema: A Review. J Clin Med 10: 2023.
  4. Veronez CL et al. (2021) The Expanding Spectrum of Mutations in Hereditary Angioedema. J Allergy Clin Immunol Pract 9: 2229-2234.

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